Wie Corona Ich-Bezogenheit zeigt: Solidaritätskollaps
Wer Solidarität fordert, diese selbst aber willentlich unterlässt, darf sich über verlorenes Vertrauen seitens eigener Bürgerinnen nicht wundern.
K aum ein Wort war im Jahr 2020 so wichtig wie Solidarität: Haltet euch an Hygieneregeln! Geht nicht raus! Schult eure Kinder zu Hause! Unterlasst alles, damit Menschen nicht sterben und das Personal in den Krankenhäusern geschont wird!
Das eigene Handeln und Leben in Relation zu anderen zu setzen, ist nun leider etwas, das viele verlernt haben. Corona macht die Deformation dessen deutlich, was wir noch immer gerne „Gesellschaft“ nennen: Eine Ansammlung von Ich-Fanatikern. Keine Empathie, solange man sich nicht selbst in Sicherheit gebracht hat.
So hat Deutschland mit der Agenda 2010 Armut produziert, weil es aus der Rolle des „kranken Mannes in Europa“ rauswollte. Produziert hat es andere Krankheiten. Individuelle. Einzelschicksale, die wenig Lobby haben, Kinder alleinerziehender Mütter, die noch weniger Lobby haben. Die Debatten über die Kürzungen, die Präsident Macron vorantreiben wollte, bekommt man selbst in Deutschland mit, weil die Franzosen das neoliberale Primat noch nicht akzeptiert haben. Der Unmut in der Bevölkerung war so groß, dass Macron auf das Tête-à-Tête der Reichen in Davos verzichten musste. In Deutschland hingegen geschah der Abbau leise, wie von Geisterhand.
In dieser Atmosphäre aus Kälte und Apathie ist das Beschwören von Solidarität, wie Corona sie fordert, vergeblich. Wer kann, will sein Vergnügen, es ist schließlich „sein Leben“ – das Primat des Egoismus zählt. Und während die Solidarität ausgehöhlt wurde, entstand eine Parallelgesellschaft aus Millionären und Multimillionären. In diesem Coronajahr 2020 besaßen Mitte des Jahres Millionäre gemeinsam 65 Billionen Euro. Mehr als 100.000 neue Millionäre gibt es allein in Deutschland, so der World Wealth Report dieses Jahres. Die reichsten 10 Prozent besitzen inzwischen mehr als 56 Prozent des gesamten Vermögens, eine Zahl, an der sich Gerechtigkeitsfragen gut messen lassen.
Gerechtigkeitsfrage neu
Die Frage ist derzeit nicht, ob der Staat viel verteilt, das tut er. Die Frage ist, von wem er sich das Geld, das er verteilt, nimmt. Und welche Vermögen unangetastet bleiben. In Zeiten der Neuverschuldung angesichts von Corona und der Klimakrise muss Solidarität die Gerechtigkeitsfrage neu stellen. In einer Gesellschaft, in der die meisten denken – auch wenn es nicht stimmt – sie hätten sich alles selbst erkämpft und die Reichsten kommen einfach so davon, wird Solidarität als Handlungsmaxime nicht umsetzbar sein.
Natürlich gibt es auch gelebte Solidarität, wie den Einsatz jener, die in den Krankenhäusern für zu wenig Gehalt für andere ihre Gesundheit riskieren; es gibt jene, die auf andere achten und ihr Privatleben maximal reduzieren. Doch hier geht es um das, was derzeit an Dysfunktionalität sichtbar wird: etwa an den Grenzen Europas. Hier endet die viel beschworene Solidarität von 2020.
Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten kämpfen für Menschen auf der Flucht, für humanitäre Hilfeleistungen – doch wieder steht Europa vor Bildern von Menschen an den eigenen Grenzen, die verdeutlichen, dass nicht einmal mehr der Anspruch auf vorausschauendes politisches Handeln erhoben wird.
Nicht jedes Leben
Wie glaubwürdig ist eine Politik, die Solidarität beschwört, den Lockdown verhängt, „weil jedes Leben zählt“, aber vor den Grenzen Europas Menschen dahinsiechen und Ratten an Kinderkörpern knabbern lässt? Kam denn das so überraschend? Eine europäische Politik, die so selbstbewusst versagt, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Auch deshalb bleiben politische Ansprachen oft wirkungslos: Die moralische Autorität ist längst verspielt. Wer solches Elend zulässt, dem glaubt man keine Sätze wie: „Jedes Leben zählt.“ Man vermutet wirtschaftliche Interessen dahinter, man wittert Manipulation.
Die Unterlassungen der Politik haben zu viel Inhumanität zur Schau gestellt. Teile der Menschen, die sich von Verschwörungsfantasien haben anziehen lassen, hängen in einem Vertrauensvakuum fest, das die passive europäische Politik mitkreiert hat. Es bringt nichts, diese Kritik nur als „Elitenfeindlichkeit“ zu beschreiben und nicht nach den tieferen Ursachen dieses Vertrauensverlusts zu fragen. Die Angreifbarkeit der Eliten ist Produkt ihrer eigenen Handlungen. Ein Eindruck, der etwa seit der Rettung der Banken entstand: Man macht keine Politik für die Bürgerinnen und Bürger mehr. Die Krise der repräsentativen Demokratie besteht auch darin, dass viele glauben, die gewählten Repräsentanten kümmerten sich mehr um die Vernetzung unter den Eliten als um die Repräsentierten.
Der Zulauf, den Verschwörungsmythen 2020 haben, ist auch so zu begründen, dass viele Antworten suchen auf die Wut, die von dieser empfundenen Ungerechtigkeit ausgelöst wird. Gleichzeitig sind viele nicht gebildet genug, sich diese Wut vernünftig zu erklären, Fakten von Lügen zu unterscheiden; natürlich kann man diese Menschen verhöhnen. Man kann aber auch fragen, was aus den Bildungskampagnen geworden ist, die es einmal gab: Kultur für alle, Bildung für alle. Im digitalen Zeitalter geht es natürlich auch um Medienkompetenz.
Lipa und das Biest
Aus Bosnien kommen nun die neuesten Bilder des europäischen Solidaritätskollapses: „Lipa“ heißt der Ort. „Lipa“ nennt man im dalmatinisch-kroatischen Dialekt „die Schöne“. „Die Schöne“ wird zum Symbol für das Hässliche. Für die Fratze der Werte, die Europa beschwört. Von Kroatien erwartet die EU genau das: Das brutale Sichern der Außengrenzen. Auch das wissen alle, sagen tut es niemand.
Lipa, das kleine Dorf in Bosnien, ist nur ein Symptom; ein weiteres Glied in einer Kette aus unsolidarischem Handeln, von politischem und wirtschaftlichem Versagen. Unter den neuen Millionären findet sich nicht einer, der es für nötig hielte, mit der Macht seines Geldes etwas zu tun. 2021 sollte das Jahr werden, in dem die politische Klasse wieder lernt, Verantwortung zu übernehmen. Und das heißt, auch die Reichsten zur Solidarität aufzufordern – und diese auch durchzusetzen.
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