Wie Corona Essgewohnheiten verändert: Aus #foodporn wird #soulfood

In der Isolation verliert Essen seinen Distinktionscharakter. Fotogene Burger und Bowls weichen Speck, Linsenbrei und Schokoküssen. Schlimm? Nein.

Ein Mann mit vielen Bockwürsten im Mund

Und dazu ein schönes Glas Burgunder! Foto: imago / photothek

Noch bevor wir angefangen haben, Masken zu tragen, konnten wir beobachten, wie Masken fallen. Selbst Ministerpräsidenten geraten die Frisuren aus der Fasson, TV-KorrespondentInnen schminken sich lieber gar nicht als falsch, der schöne Schein weicht dem menschlichen, allzu menschlichen Antlitz. Der Grunge-Look erfährt in Corona-Zeiten ein unerwartetes Comeback, und das lässt sich auch auf den Food-Fotos in den sozialen Medien ablesen. All die Postings, für die sich der Hashtag #foodporn eingebürgert hat, die Menschen können davon auch am heimischen Küchentisch nicht lassen, obwohl da noch mehr aus der Fasson gerät.

Das Handy ist in den letzten Jahren zu einem eigenen Besteckteil neben Messer und Gabel geworden, und damit ist die Visualität dessen, was auf dem Teller liegt, für den allgemeinen Appetit mindestens so wichtig geworden wie der Geschmack. Teller lassen sich umso besser ablichten, desto kontrastreicher das Gericht darauf ist, je mehr Farben, und Formen es beinhaltet, auch Dreidimensionalität spielt eine Rolle. Es ist eine Erklärung, warum Burger, Bowls und Cupcakes zum It-Food der vergangenen Jahre geworden sind – zwischen Brotscheiben kann gestapelt werden, Schüsseln sehen aus wie wuchernde Blumenbeete, und mit Crèmes, Schokoherzen und Zuckerperlen lassen sich die waghalsigsten Kronen auch auf kleine Kuchen zaubern.

Obwohl Essen und Ernährung dabei in den vergangenen Jahren stetig an Bedeutung zugenommen haben, ergaben Umfragen immer wieder, dass die Zeit für die Zubereitung auf ein Minimalmaß geschrumpft ist. Nach dem aktuellen Ernährungsreport kochten vor der Coronakrise nur 40 Prozent der Menschen in Deutschland täglich. Das dürfte sich massiv verändert haben. Corona stellt die modernen Ess- und Trinkgewohnheiten auf den Kopf.

Lange galt der Satz „Du bist, was du isst“. In den Nuller- und Zehnerjahren änderte er sich, angetrieben von den sozialen Medien, in das Motto „Du isst, was du sein willst.“ Je mehr Nahrung Ort der Identitätssuche wurde, umso schneller wechselten die Trends und poppten neue Superfoods auf. Wie die Gesetze der Mode um sich gegriffen hatten, merkt man erst jetzt so richtig, da die Pandemie alles auf null gefahren hat.

Ein braun-gelbes Mischmasch

Aufläufe, Eintöpfe, Schmorgerichte, viel Frittiertes – das wird jetzt gepostet und auch geliked, oft mit dem Hashtag #soulfood versehen. Sieht nicht gut aus, aber schmeckt und wärmt die Seele. In der zweiten Aprilwoche waren in US-Supermärkten nicht die Klopapierregale leer, dafür stapelten sich in den Einkaufswagen Hülsenfrüchte und Daal wurde zum sich weltweit verbreitenden Meme: ein zwar wirklich schmackhaftes Linsencurry, aber irgendwie auch nur ein braun-gelbes Mischmasch – in #foodporn-Kategorien ein Fail ersten Ranges.

Die Pandemie hat etwas Paradoxes. Die Menschen erwarten einen fühlbaren Notstand, für den sie sich eindecken oder irgendwie vorbereiten können. Als ob die mangelnde soziale Nähe nicht Krise genug wäre, stiehlt sich das Preppertum ins Alltagsverhalten. Weil Supermärkte allein ob ihrer auf möglichst hohen Warendurchfluss optimierten Klaustrophobie-Innenarchitektur zu den Orten gehören, wo wir dieser Tage am wenigsten Abstand halten könnten, kauft man gerade lieber für die ganze Woche ein als für die nächsten Tage.

Beim Horten scheint die Politik der meisten zu sein, das zu kaufen, was erfahrungsgemäß gerne fehlt, wenn man spontan Laune bekommt, sich an den Ofen zu stellen. So wurden Hefe und Mehl hierzulande mit zu Coronabestsellern. Wenn auf Vorrat gehandelt wird, wird anders in wichtig und unwichtig entschieden. Der eigene, sich abgrenzende Geschmack ist dann auf einmal nicht mehr so bedeutend. Distinktion? Wen interessiert das schon, wenn das Publikum fehlt.

Das spiegelt sich auch in der Esskultur wider. Gerichte sind gut, die vorhalten, die aufladen, die wohltun. Die Ampel steht auf einem dicken einfachen Plus. Das Minus löst bei niemandem mehr Appetit aus, all jene Konzepte also, die sich mit Detox umschreiben lassen. Sogar Gwyneth Paltrow, seit Jahren prominenteste Influencerin in diesem Bereich, häuft auf ihre Gemüseteller gerade gebratenen Speck, Huhn und Eier. Gut möglich, dass auch die vegane Bewegung durch Corona eine ausgewachsene Konjunkturdelle erfahren wird.

Bockwürstchen zum Lieblingsrotwein

Auf einmal ist Essen von seinem großen sozialen Kontext entkleidet. Die Dos and Don’ts, die vor Wochen noch wichtig waren, sind auf einmal relativ. Wer guckt schon, wenn man die letzte Flasche des schweren Lieblingsrotweins gemeinsam mit einem Glas Bockwürstchen öffnet oder sich statt zuckerfreien Mandelmuses nach Jahren mal wieder Schokoküsse zwischen die Toasthälften drückt. Alles so leicht verrückt wie die ganze Situation.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aber das ist ja auch das Schöne: Ein bisschen was Anarchisches, die Freiheit, die man vermisst – auf dem Teller kann man das jetzt verwirklichen. Und sich über den eigenen Geschmack klar werden.

Das Rezept verlangt Kapern, aber dafür müsste man noch einmal um die Ecke ins Hochrisikogebiet Supermarkt gehen. Dann muss das Gericht eben ohne Kapern auskommen. Geht! Irgendwie! Selbstbewusst mit Leerstellen umgehen, so beginnt das eigentliche Kochen: wenn man Rezepten nicht streng folgt, wenn man ihnen den eigenen Touch gibt. Und was ist eigener als eben genau das, was man in der Küche hat – und was nicht. Vielleicht stattdessen klein gewürfelte Gewürzgurken? Warum nicht. Es ist ein Schritt zurück zum „Du bist, was du isst“.

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