„Widerstands-Kollektiv“: Widerstand mit der Malerrolle
In Berlin-Reinickendorf hat das „Widerstands-Kollektiv“ über Nacht einen Radweg angelegt. Die Gruppe will die Mobilitätswende selbst in die Hand nehmen.

Vor dem sitzen einige BewohnerInnen in der Sonne, unterhalten sich und lösen Kreuzworträtsel. Ob sie mitbekommen haben, dass in der Nacht zum Sonntag AktivistInnen ganz ohne Genehmigung eine Radspur auf ihre Straße gepinselt haben? Nee. „Unjenehmigt, in Deutschland? Dit is ja ma was“, brummelt einer und lacht. Auch die Kioskbetreiberin Ecke Residenzstraße hat nichts mitgekriegt.
Dabei ist der Radweg, den „Ehrenamtliche des Widerstands-Kollektivs“ angelegt haben – oder: „gebaut“, wie sie selbst es auch nennen –, kaum zu übersehen. Oder vielleicht doch? Nach einem durch die Polizei vereitelten ersten Versuch ein paar Nächte zuvor sollte es offenbar ganz schnell gehen mit dem Malen. Jedenfalls ist die weiße Linie, die die Straße jetzt in zwei Hälften teilt, stellenweise ziemlich krumm, und bisweilen sieht es eher aus, als habe ein Auto einen Farbeimer überrollt und beim Weiterfahren den Inhalt verteilt.
Immerhin die Fahrradpiktogramme wirken fast offiziell, auch wenn sie von den wenigen Autofahrenden durchweg ignoriert werden. Dass die Markierungen lange Bestand haben werden, ist nicht zu erwarten, Bezirksämter lassen sich nicht gern ins Handwerk pfuschen. Die AktivistInnen des rund 25-köpfigen Widerstands-Kollektivs ficht das nicht an: „Wir werden immer wieder Radwege malen, bis sie bleiben“, sagt AktivistIn Jori. Denn es sei „unverantwortlich, dass so viele Radfahrende täglich in Gefahr geraten, wenn sie von Autos an den Rand gedrängt werden.“
„Bekommen viel Lob“
Laut Jori ist die Online-Resonanz auf die Aktion „super. Viele Radfahrende loben die Aktionen“. Vor allem nach dem Frust über den Senats-Stopp für Kiezblocks seien offenbar „viele Menschen dankbar, dass wir das einfach pragmatisch selber in die Hand nehmen“.
Aber birgt ein in Eigenregie angelegter Radweg nicht auch Risiken für Radfahrende? Etwa, weil Autofahrende die Spur bewusst missachten, wenn sie sie als improvisiert erkennen? „Das kann ich nicht nachvollziehen“, meint Jori. Es bestehe ein wissenschaftlicher Konsens, dass Straßen ohne Radwege viel gefährlicher seien. Radwege sorgten dafür, dass die ohnehin vorgeschriebenen 1,50 Meter Abstand beim Überholen tatsächlich eingehalten würden. Außerdem gebe es in Berlin offizielle Radwege, „die sehr viel unprofessioneller aussehen als unsere“.
Das Widerstands-Kollektiv – Logo: ein pinkes W, das in ein Herz übergeht – will in den kommenden Wochen „5 Kilometer Radweg“ schaffen. Zwei sind nach eigenen Angaben schon fast erreicht, neben Berlin auch in Bremen und Hamburg.
Die Gruppe in der Nachfolge der Letzten Generation will unter anderem in Sachen Mobilität „die Veränderung selbst in die Hand“ nehmen und „unsere Städte Stück für Stück vom Einfluss der Fossil- und Autoindustrie befreien“. Petitionen, Demos und ziviler Ungehorsam hätten die Politik nicht zum Handeln gegen die Klimakatastrophe bewegt, jetzt gelte es, „die notwendigen Maßnahmen direkt umzusetzen“.
Zwei weitere Betätigungsfelder hat das Widerstands-Kollektiv für sich identifiziert: „Fossilindustrie“ und „Superreiche“. Wie entsprechende Aktionen aussehen, wird sich wohl bald zeigen. Dabei heißt es im Manifest der Gruppe, der „Gewalt und der Zerstörung in dieser Welt nichts entgegenzusetzen“, wäre selbst „gewaltvoll“. Man sei aber „gewaltfrei in der Gemeinschaft, im Protest, in unserer Haltung und in unserem Handeln“.
Vorrang auf der langen Bank
Zurück zur Stargardtstraße: So unscheinbar sie ist, gehört sie doch zum rund 800 Kilometer umfassenden „Vorrangnetz“ für den Berliner Radverkehr, das eigentlich bis 2030 fertig sein soll. Laut dem Verkehrswende-Monitor des Vereins Changing Cities (CC) sind aber gerade einmal 10 Prozent umgesetzt – und das auch nur, wenn man bei den Kriterien gemäß Mobilitätsgesetz mindestens ein Auge zudrückt.
CC-Sprecherin Ragnhild Sørensen findet es denn auch kein bisschen erstaunlich, „dass die Leute ungeduldig und unzufrieden mit der Verkehrspolitik sind. Berlin steht ja inzwischen vollkommen still!“ Absurd sei vielmehr das Tempo und die Gründlichkeit, mit denen solche Guerilla-Markierungen wieder entfernt würden. „Der Senat hat sehenden Auges eine Spirale des Nein-Sagens, der Ablehnung und der Verweigerung erzeugt“, findet Sørensen.
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