piwik no script img

Wider den russischen EinmarschSelenski will sich nicht beugen

Die Ukraine schießt drei russische Kampfjets ab, bleibt aber machtlos gegen den Beschuss vieler Städte. Zi­vi­lis­t:in­nen bleibt nur die Flucht.

Keine Kontrolle über den Himmel, „das ist unser größtes Problem“: Ukraines Präsident Selenski Foto: Volodymyr Zelenskiy/Instagram/Reuters

Berlin taz | Ukrainisches Militär und Freiwillige widersetzen sich weiter mit einigen Erfolgen dem Vormarsch der russischen Streitkräfte. So gelang es ihnen nach eigenen Angaben, in der Nacht zum Dienstag drei russische Kampfjets und einen Marschflugkörper über Kiew abzuschießen. Über der Stadt waren laute Explosionen zu hören. Erstmals gelang es am Dienstag, einige hundert Zi­vi­lis­t:in­nen aus der Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine zu evakuieren.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski schickte am Montag Abend eine Videobotschaft aus seinem Büro in Kiew. Er verstecke sich nicht und fürchte niemanden, sagte er. Dem US-Sender ABC sagte er in der Nacht, er sei bereit zu Gesprächen über den Status der Separatistengebiete im Osten des Landes und der Krim. Eine russische Herrschaft dort werde er aber nicht anerkennen, und er werde auch nicht kapitulieren. Er forderte erneut internationale Hilfe beim Schutz des ukrainischen Luftraums. „Wir kontrollieren nicht den Himmel über uns, das ist unser größtes Problem“, sagte Selenski.

Angesichts des heftigen Widerstandes hat das russische Militär seine Luftangriffe und den Artilleriebeschuss mehrerer großer Städte intensiviert. Dort ist die Lage für die Zivilbevölkerung verzweifelt. Der Beschuss richtete bisher große Schäden an Wohngebäuden und öffentlichen Einrichtungen, Brücken und Krankenhäusern an. In Sumy wurde in der Nacht auf Dienstag ein Wohnhaus getroffen und 21 Menschen getötet. US-Außenminister Antony Blinken warf am Montag den russischen Streitkräften absichtliche Angriffe auf Zivilisten vor. Dies seien Kriegsverbrechen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigte bislang 16 Angriffe auf Hospitäler oder Arztpraxen. Vorräte werden knapp, es fehlen Lebensmittel und Wasser, Treibstoff sowie Medikamente für die Krankenhäuser. In Mariupol am Schwarzen Meer, das seit Tagen vom russischen Militär angegriffen wird, gab es keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung mehr. Noch funktioniert das mobile Internet, aber es gibt Gerüchte, dass es bald im Süden und Osten des Landes abgeschaltet werden könnte.

30 Busse für 450.000 Menschen

Am Dienstag sollte ein weiteres Mal eine Waffenruhe in Kraft treten, um Zi­vi­lis­t:in­nen über sogenannte humanitäre Korridore zu evakuieren. Dreißig Busse und acht Lastwagen waren nach Angaben der ukrainischen Regierung auf dem Weg nach Mariupol. In der Hafenstadt am Schwarzen Meer lebten vor dem Krieg 450.000 Menschen. Die Busse sollten Zivilisten über einen Fluchtkorridor in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet bringen, sagt Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk im Fernsehen. Sie warf den russischen Streitkräften vor, dort die Evakuierungsroute zu beschießen.

Ein erster Fluchtkonvoi mit 723 Personen, die meisten indische Studierende, verließ am Morgen die umkämpfte Stadt Sumy. Ziel war der Ort Poltawa in der Zentralukraine, twitterte das Außenministerium in Kiew.„Wir rufen Russland dazu auf, auch anderen humanitären Korridoren zuzustimmen.“ Weitere 3000 Menschen konnten aus dem umkämpften Irpin bei Kiew in die ukrainische Hauptstadt gebracht werden.

Nach russischen Angaben stünden weitere Korridore aus Kiew, Charkiw, Mariupol und Tscherhihiw offen. Russland hatte allerdings zur Bedingung gemacht, dass die meisten dieser Fluchtwege durch Russland oder Belarus verlaufen, was für die ukrainische Seite inakzeptabel ist. Die Menschen, die die Städte Sumy und Mariupol verlassen möchten, hätten aber die Wahl, auch in die ukrainischen Städte Poltawa oder Saporischja zu fliehen, erklärte die zuständige russische Behörde.

Die Flucht Hunderttausender Zi­vi­lis­t:in­nen aus dem Kriegsgebiet bringt auch den Rest der Ukraine einer humanitären Katastrophe immer näher. Viele Hauptrouten sind wegen zerstörter Brücken nicht mehr befahrbar. Im ganzen Land gibt es Kontrollen bei der Einfahrt in Dörfer und Städte. In Lwiw im Westen des Landes sind mittlerweile 200.000 Menschen eingetroffen, die Nothilfe, Schutz und eine Möglichkeit zur Weiterreise ins Ausland suchen. Bürgermeister Andrej Sadowji sagte in einer Videobotschaft, seine Stadt benötige dringend Hilfe.

Nachbarländer nehmen zwei Millionen auf

Die Zahl der aus der Ukraine in die Nachbarländer Geflüchteten hat am Dienstag zwei Millionen überschritten. Etwa die Hälfte davon seien Kinder, meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). 1,2 Millionen Geflüchtete wurden demnach von Polen aufgenommen.

Die verzweifelte Lage der ukrainischen Zivilbevölkerung war am Montag auch Thema im UN-Sicherheitsrat. Dort hielt der russische UN-Botschafter Wasili Nebensjia eine lange Rede, die mit geradezu atemberaubenden Verdrehungen der Realität und wütenden Anklagen der Gegner Russlands gespickt war. „Wir bombardieren keine Zivilisten“ in der Ukraine, behauptete er, „es sind ukrainische Kriminelle und Neonazis, die Bürger als menschliche Schutzschilde missbrauchen.“

Der ukrainische Botschafter klagte, er habe „fortwährende Lügen, Wahnvorstellungen und Delirien“ gehört, die nur schwer zu ertragen seien. Nebensjia hatte Ende Januar der US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield im Sicherheitsrat vorgeworfen, sie lüge, wenn sie behaupte, Russland bereite eine Invasion der Ukraine vor.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Es gibt auch keinen guten Krieg im bösen. Es gibt kein Heil im entgrenzenden Unheil, keine Perspektive für das Leben nach einem atomaren Overkill. Zeitenwende, Epochenwandel, Paradigmenwechsel: Ungewissheit dominiert, man mag kaum scharf wie gewohnt kritisieren und kommentieren, damit nicht zusätzlich Öl ins Feuer gegossen wird. Die Kanäle der Diplomatie erscheinen verlegt, vernebelt oder verstopft. Gewissenlosigkeit dominiert krass einseitig - aggressiv und invasiv. Aus einer dynamischen Lage wird eine bellizistisch unkontrollierte Eskalation, bei angekündigter atomarer Bedrohung eine gar äußerst brisante Konstellation. "Himmel hilf", vielleicht im wörtlichen Sinn für die Ukraine eine angedachte Utopie einer Wende, mit russischem MIG-Militärgerät aus Polen zur Verteidigung der Lufthoheit und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Welch ein irritierendes Bild für die mitleidenden, teils schockstarren und friedliebenden Teile der Zivilgesellschaft hüben und drüben.

  • Erste gute Nachricht seit langem: Selenski, also die gewählte, amtierende Regierung formuliert nicht nur schlicht-stoisch weiter ihren Anspruch auf Donbass und Krim.

    Das wäre und ist natürlich keine "Kapitulation"! Selbstverständlich nicht. Richtig so.



    Muss und sollte es auch nicht. Darf nicht und rechtfertigt auch nicht einen imperialen Angriffskrieg des oligarchisch-kapitalistischen Putin-Russlands. Noch adelt es den nationalistischen Militarismus auch nur einer Seite der Kriegsparteien.

    Ganz wichtige und weltpolitisch bedeutende Ansage der Selenki-Regierung wäre jetzt:



    Wir lösen das Asow-Regiment auf. Und akzeptieren in unserem Militär auch nie mehr Personal und Ideologie solcher (militärischer) Organisation.

    Das soll doch Putin mal was sagen von wegen - er kämpfe gegen Nazis in der Ukraine.

    So läuft die Weltpolitik und Friedensverhandlungen. Man muss was ehrliches und bedeutendes in die Verhandlungen einbringen.

    Die Auflösung des Asow-Regiments wäre so ein KONKRETES Angebot.

    Dann könnte die ukrainische Regierung anbieten, doch noch Mal zu ermitteln wer die Scharfschützen waren, die 2014 auf dem Maidan Unbewaffnete Demonstranten ermordete.



    Da gibt es ja paar ungute Ungereimtheiten deren Aufklärung die EU, die Deutschland einmal eigentlich den folgenden Regierungen zur Voraussetzung für ihre Unterstützung machten. Wäre für die Befindlichkeit des Gegenübers auch kein unwichtiges Thema. An ihm wird ja eine Erzählung gepflegt, die "russlandfreundlichen Kräften" - also Russland das Schlachten auf dem Maidan zuschiebt. Was so einfach -mindestens- zweifelhaft ist.



    Das hat eine kritische deutsche Öffentlichkeit auch mal gewusst.

    Und das Schönste an den beiden konkreten Angeboten wäre ja: Es sind so demokratische Ziele! Demokraten haben sich dabei nichts zu vergeben.



    Wer hat schon ein Asow-Regiment in seinem regulären Militär! Doch kein Demokrat.



    Und seit wann sperren sich Demokraten gegen die rechtsstaatliche Aufklärung von Massenmorden?

    • @Martinxyz:

      Der Demokrat Selenski befürwortet die Aufklärung von Massenmorden in Den Haag, Putin blockiert die Ermittlungen...

      Die entscheidende Realität ist folgende: Putin lässt in Charkow die russischstämmige Zivilbevölkerung durch sein Militär abschlachten. Dies zeigt, es geht ihm gar nicht um sein Volk, weder um das wohlergehen der eigenen Soldaten und des eigenen russischen Volkes und schon gar nicht um die russischstämmige Bevölkerungen in anderen Ländern. Deren Leben setzt er gerne für seine privaten persönlichen Ziele aufs Spiel.

    • @Martinxyz:

      Sie glauben immer noch, dass es Putin um was anderes geht als die vollständige Eroberung der Ukraine, oder? Sie glauben seine Propaganda und Sie glauben, dass damit was zu erreichen wäre, aus dieser Propaganda Forderungen abzuleiten, deren Erfüllung irgendwas ändern könnte.

      • @LeSti:

        Geht nicht darum was Sie oder was ich glaube.



        Geht um die Realität. Lesen Sie meinen Text noch mal. Ich verwende bewusst die etwas sperrige, wenig putinfreundliche, auf Bewusstsein und Begriff hoffende Reihung:

        Imperialer Angriffskrieg des oligarchisch-kapitalistischen Putin-Russlands.

        So nun Sie. Beim glauben. Und bitte Angesichts der Realität, (Hallo - störe ich Sie? - ich hab die Realität nicht gemacht!) - wie finden Sie denn, dass der grösste faschistische Kampfverband seit 1945, als regulärer Truppenteil mit Namen Asow-Regiment Teil demokratischer Solidarität und Militärstrategie sein soll? Und was schlagen Sie vor, wie dieser politisch-militärische Fakt in den nächsten paar Jahren bewältigt wird? Oder halten Sie das für eine Fussnote der Geschichte?

        Vielleicht müssten Sie einmal überlegen was Sie gerne glauben möchten.



        Ich habe keine Zweifel an den verbrecherisch-imperialen Zielen eines oligarchisch-kapitalistischen Putinrusslands.

        Selbstverständlich ist es zynisch, wenn gerade von dieser Seite die Existenz eines faschistischen Söldnerheers in den Reihen der regulären Armee der Ukraine zum Vorwand für das nächste Verbrechen gewendet wird.

        Aber den Fakt. Die Realität. Die Existenz des Asow-Regiments ändert es nicht.

        Mein grundmilitärisches Wissen reicht aus, um zumindest meine Zweifel daran zu haben, dass die russische Generalität ein Interesse habe, die Evakuierung Mariupols zu torpedieren.



        Weshalb? Ausser man möchte glauben. Glaubten das der Russe natürlich wahllos Zivilbevölkerung schlachtet.

        Aber militärisch haben die militärischen Verteidiger Mariupols ein Interesse, dass zwischen ihnen und den Invasionstruppen kein freies Schussfeld ist. Mit der Verteidigung Mariupols offiziell regierungsamtlich beauftragt: Das Asow-Regiment.

        Das sollte zumindest skeptisch machen.

        • @Martinxyz:

          Die Realität ist: wäre das Regiment Asow 2014 aufgelöst worden, hätte das nichts daran geändert, dass Putin die Ukraine erobern will. Genau wie es die Realität ist, dass keinerlei Zugeständnisse ihn von diesem Plan abbringen werden. Einzig knallharte Niederlagen und Sanktionen werden da was bewirken.

    • @Martinxyz:

      Ich hab ein bisschen Zeit darauf verwendet, die Kernaussagen aus diesem Kommentar herauszuarbeiten, erkenne aber keine.