„Wendepunkte“ von Ulrich Menzel: Krise, Einschnitt und das Danach

Steht die Welt am Übergang zu einem autoritären Jahrhundert? Eine Analyse der Wendepunkte einer Welt, die aus den Fugen gerät.

Chinese President Xi Jinping mit Blick aufs unsichtbare Rednerpult unter ihm. Seine Silhouette wurde in Bewegung eingefangen, sodass sein Abbild verschwommen aussieht

Möglich ist, dass China zum Hegemon aufsteigt. Möglich ist auch, dass die USA ihren Abstieg stoppen Foto: Louise Delmotte/ap

Markiert Russlands Angriffskrieg in der Ukrai­ne tatsächlich eine Zeitenwende? Oder ist er nur ein Glied in einer längeren Kette von Krisenphänomenen, die auf eine größere Umwälzung verweist?

Diese These vertritt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel in seinem Buch „Wendepunkte“. Wenn man den Begriff Zeitenwende allein für den 24. Februar 2022 reserviere, verkürze man ihn auf das Kriegerische und auf eine eurozentristische Perspektive, kritisiert er. Vor allem verschleiere man aber eine epochalere Wende.

Gemeint ist eine mögliche Wachablösung im internationalen System. Menzel ist ein Vertreter der Hegemonietheorie, die davon ausgeht, dass die Staatenwelt nicht dauerhaft im Zustand der Anarchie verbleibt, aber auch nicht allein durch zwischenstaatliche Abkommen, internationale Institutionen und völkerrechtliche Normen eine Ordnung ausbildet. Vielmehr bedarf es eines Hegemons, der mit seiner wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der internationalen Sphäre bestimmte Strukturen gibt.

Momentan sieht Menzel eine Phase des „hegemonialen Übergangs“. Die USA seien zunehmend weniger in der Lage, die Rolle der globalen Führungsmacht auszufüllen, was sich nicht nur bei der inneren Krise der US-Demokratie, sondern auch in den zahlreichen Konflikten mit den europäischen Verbündeten, insbesondere während der Trump-Jahre, zeige.

Anarchie der Staatenwelt

Und China, das die Rolle des globalen Hegemons anstrebt, sei noch nicht so weit, eine internationale Ordnung nach seinen autoritären Vorstellungen schaffen zu können. In Übergangsphasen wie jetzt kehre für eine Weile die Anarchie der Staatenwelt zurück, weshalb es häufiger zu militärischen Konflikten kommt.

Menzel geht der Frage nach, wann Wendepunkte im internationalen System entstehen und wie einzelne Mächte dieses prägen

Menzels Buch versammelt eine Reihe von Aufsätzen, teils auch älteren Entstehungsdatums, die der Frage nachgehen, wann Wendepunkte im internationalen System entstehen und wie einzelne Mächte dieses prägen. Dafür greift er weit in die Geschichte aus und beschäftigt sich mit dem Verhältnis Europas zu Asien, das von Beginn an stark von Handelsinteressen geprägt war – und von der Konkurrenz der europäischen Nationen.

Militärische Innovationen spielten dabei immer wieder entscheidende Rollen. So stieg zum Beispiel Portugal im 16. Jahrhundert zur herrschenden Seemacht im Indischen Ozean auf, weil es mit der Galeone ein Schiff baute, das zum einen Afrika umsegeln konnte, zum anderen besonders viele Kanonen an Bord postiert hatte, was ihm in Gefechten einen Vorteil verschaffte.

Wie Hegemone die internationale Ordnung prägen, wird in der historischen Rückschau deutlich: Im 17. Jahrhundert wurden etwa die Niederlande die führende Schiffsbaunation und setzten das Prinzip der „Freiheit der Meere“ durch, ein Zugang für alle – gegen den portugiesisch-spanischen Anspruch, die Meere exklusiv zu nutzen.

Untertitel: „Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“

Der Hegemon, schreibt Menzel, zeichnet sich dadurch aus, dass er internationale öffentliche Güter zur Verfügung stellt, die von allen genutzt werden können. Zu diesen zählen Stabilität, Sicherheit und Konnektivität, also die Ermöglichung des grenzüberschreitenden Verkehrs. In dieser Makroperspektive der internationalen Beziehungen ist der Krieg in der Ukraine dann nur Teil einer Krisenkaskade, die den American decline begleitet.

Ulrich Menzel: „Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“. Suhrkamp, Berlin 2023, 349 Seiten, 20 Euro

Menzel stellt den Krieg in eine Reihe mit 9/11 und der Weltfinanzkrise nach 2008. Hier kann man allerdings einwenden, dass die Rückkehr nackter Gewalt in die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa ein so krasser Bruch mit der Nachkriegsordnung ist, dass Putins Überfall doch mehr ist als nur ein Glied in einer Krisenkette. Wie mit dem russischen Angriffskrieg das Militärische mit aller Vehemenz wieder Teil der internationalen Politik wird – das kommt bei Menzel zu kurz.

„Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“, lautet der Untertitel des Buchs. So entschieden, wie er suggeriert, ist der Ausgang der jetzigen Phase aber gar nicht. Darauf weist Menzel explizit hin. Möglich ist es, dass China zum Hegemon aufsteigt und eine autokratische Weltordnung schafft. Möglich ist es aber auch, dass die USA ihren Abstieg stoppen und einen weiteren Hegemoniezyklus beginnen. Das ist, bemerkt Menzel, schließlich schon einmal gelungen.

Mitte der 1980er Jahre war auch viel vom amerikanischen Abstieg die Rede. Dann fiel die Berliner Mauer, die Sowjetunion kollabierte, und die USA fanden sich als einzige verbliebene Supermacht auf dem Höhepunkt ihrer Macht wieder. Insofern kann der Blick in die Geschichte für Wendepunkte der Weltordnung in der Gegenwart sensibilisieren. Wie es nach ihnen weitergeht, verrät er aber nicht.

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