Historiker Karl Schlögel über Amerika: Nach Westen, nach Westen

Ein monumentales Buch der Bücher: Der Historiker Karl Schlögel entschlüsselt die „American Matrix“ – zwischen Technik, Mythen und Personenregister.

Berühmtes Foto von New York von 1932, auf dem viele Bauarbeiter auf einem freischwebendem Träger in luftiger Höhe sitzen

Immer höher: Bauarbeiter bei der Mittagspause auf dem Rockefeller Center in New York 1932 Foto: Bettmann Archive/Getty Images

Die Webers, so Karl Schlögel, „waren überwältigt vom ersten Augenblick an, in dem sie in New York angekommen waren“. Max und Marianne Weber, der große deutsche Soziologe und seine Ehefrau, bereisten 1904 für einige Monate die Vereinigten Staaten. Die beiden durchkreuzen in schnellem Tempo das Land, das schon ausreichend gut mit Verkehrswegen erschlossen ist.

Sie treffen die Crème von Politik und Geisteswelt, am Soziologentag kommen europäische Größen mit legendären Figuren zusammen, wie W. E. B. Du Bois, dem ersten und für Jahrzehnte prägenden schwarzen US-Intellektuellen. Weber wird ihn später den „bedeutendsten soziologischen Gelehrten“ nennen, „mit dem sich kein Weißer messen kann“.

Weber macht einen Abstecher in das Indian Territory, an die „Frontier“ und bucht eine Führung durch die gigantischen Komplexe der Schlachthöfe von Chicago, ein Dante’sches Inferno von Menschenschinderei, Ausbeutung und Tierverhäckselung. „Mit geradezu rasender Hast wird Alles, was der kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt“, staunt Weber, und: Chicago ist „eine der unglaublichsten Städte“.

„American Matrix“ heißt das neue Buch von Karl Schlögel, den man bislang vornehmlich als Osteuropahistoriker kennt, als Reisenden in die Tiefen der einstigen Sowjetunion, und der uns nun auf eine Expedition westwärts mitnimmt. Ein packendes und eigentümliches Buch zugleich. Schlögels eigene Besichtigungen bleiben im Hintergrund, begleiten nur da und dort die Forschungsreise durch den Bücherbestand.

Karl Schlögel: „American Matrix. Besichtigung einer Epoche“. Hanser Verlag, München 2023, 832 Seiten, 45 Euro

Mythos Amerika, Realität Amerika

Man könnte die monumentale 832-Seiten-Expedition beinahe einen­ Lektürebericht nennen. Schlögel hat sich eine Bibliothek an Erkundungen von Zeitgenossen der vergangenen zweihundert Jahre vorgenommen, bereist das Land auf ihren Spuren, kriecht in ihre Köpfe und beleuchtet Amerika – den Mythos Amerika, die Realität Amerika – entlang der Projektionen, die die Weite dieser Nation immer auslöste.

„Matrix“, schon der Begriff evoziert Bilder von Architekturen und von Ordnung im Raum, der Strukturierung des Nicht-so-Zufälligen, und genau das unternimmt auch dieses Buch.

Die Reise beginnt, es kann anders kaum sein, mit Alexis de Tocque­villes Bericht „Über die Demokratie in Amerika“, das später das „großartigste Buch, das je über Amerika geschrieben wurde“, genannt wurde. Schon der erste Satz wurde kanonisch: „Von all dem Neuen, das während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.“

Auf den Spuren von Tocque­ville und Weber

Amerika, das Neue. Schlögel folgt den Spuren der Reisenden, der staunenden Europäer wie Tocque­ville oder Weber, und den amerikanischen Grüblern, reenactet gewissermaßen ihre Reisen ins Innere dieses seltsamen Landes. Die Reisen selbst sind Dokumente des Neubeginns, der Tatsache nämlich, dass sie möglich werden.

Armee und Siedler eroberten den Raum, die Technologie kam nach. Schon Tocqueville konnte nur dank eines Systems „von Postkutschen, das sich binnen weniger Jahrzehnte außerordentlich verdichtet hatte“ (mit 8.000 Knotenpunkten bereits 1815), in einem solch erstaunlichen Tempo unterwegs sein.

Es folgten die Stahlungeheuer der Eisenbahnen, dann die Busse – Ikonen mit klingenden Namen wie Amtrac oder Greyhound. Highways und Freeways, ein Netz, eine tanzende, auf ihre Weise schöne Struktur, die wiederum auf Mentalitäten zurückwirkte: die Kultur einer Gesellschaft der Mobilität. Exemplarisch Los Angeles, diese seltsame Metropole, die mehr Städtekonglomerat an Freeway-Knotenpunkten ist. „Zivilisation auf Rädern“, und die Raumeroberung geschieht nicht unwesentlich mit Brückenbau und „Maschinen von zyklophaften Ausmaßen“.

Die spezifische Form amerikanischer On-the-Road-Geschichten, vom Lonely Wolf, der sich auf den Weg macht, all das verdankt sich der Weite des Raumes, bis zu Jack Kerouacs stilbildendem „On the Road“, wo es heißt, „es gibt keinen besseren Weg, das Land zu sehen, als einen guten alten Bus zu besteigen …“

„Matrix“, schon der Begriff evoziert Bilder von Architekturen, von Ordnung im Raum

Die verschiedenen Facetten der USA

Schlögel zeichnet und vermisst die nordamerikanische Kultur, vom Campusleben, dem Kult der Sportlichkeit, über die Color-Line und den Rassismus, die Emanzipationsbestrebungen der amerikanischen Schwarzen und die unausrottbaren Bruchlinien rassistischer Zurücksetzung; die Gewalt, den Kult von Monumentalität, die Mentalitäten amerikanischer Höflich- und Freundlichkeit („Keep Smiling“), das Kunst-Amerika und die architektonische Moderne mit den ikonischen Bauten Frank Lloyd Wrights.

New York, die „Menschenwerkstatt“, der Melting Pot, aber auch die atemberaubende Gigantomanie von Beton und Stahl, von der Brooklyn-Bridge bis zum Hoover-Staudamm, einem der Hauptwerke des „New Deal“, die sich in die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung einfügen, sie aber mit dem Pathos der Gemeinschaftlichkeit legieren.

Hervorgebracht durch Massenarbeitslosigkeit und das Elend der Großen Depression, waren Infrastruktur-Großprojekte dann dennoch identitätsstiftend, und trotz der Menschenschindereien auf den Baustellen entwickelte sich ein „Stolz, mit dabei gewesen zu sein bei einem großen Projekt“. Das war „amerikanisch“, aber doch auch ein globaler Zug der Zeit.

Eine der erhellendsten Seiten von Schlögels Buch ist der Blick des Kulturhistorikers, der nicht „bloß auf das politische System fixiert“ ist, sondern frappierende Ähnlichkeiten im Vergleich der USA mit Stalins Sowjetunion findet, verbunden durch „Machine Age“ und „Glamourized Technology“. Die Weite des Raums in den USA findet eine Entsprechung in der Weite Sibiriens.

„Soviet Americanism“

Schlögel macht uns mit den Berichten sowjetischer Autoren bekannt, die die USA in den dreißiger Jahren bereisten, um die Wundertaten großer Ingenieure, Erfinder, Techniker zu ergründen. Das Planmäßige, das Technokratische des amerikanischen Geistes war etwas, das ihnen als Vorbild für sowjetische Methoden erschien („Soviet Americanism“).

So notierten die Autoren: „Wir müssen „Amerika studieren, nicht nur seine Autos, Turbogeneratoren und Rundfunkgeräte (das tun wir), sondern auch die Arbeitsmethoden der amerikanischen Arbeiter, Ingenieure und Geschäftsleute, besonders der Geschäftsleute.“

Unwillkürlich erinnert man sich dabei an die berühmte Passage aus Stalins „Probleme des Leninismus“, in dem er den „leninistischen Stil“ durch zwei Besonderheiten charakterisiert sieht: durch den „russischen revolutionären Schwung“ und „die amerikanische Sachlichkeit“.

Eisler, Feuchtwanger, Horkheimer und Adorno

Eine Art von Vollendung erlebt Schlögels Buch über Bücher, wenn er Telefonbuch und Personen­register ein spektakuläres Panorama abgewinnt – im Los Angeles der dreißiger und vierziger Jahre. Es entsteht eine „Karte des Exils“, Hollywood und Nachbarorte gelten als „Weimar on the Pacific“.

Hanns Eisler, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Max Reinhardt, Salka Viertel, Adorno und Vicki Baum, Horkheimer und Thomas Mann, Ruth Berlau und Marlene Dietrich, Fritz Lang und Peter Lorre, Rubinstein und Renoir, Werfel, Gershwin, Lubitsch, Döblin, Strawinsky, Chaplin und Richard Neutra – alle quasi Tür an Tür.

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