Welle der Proteste in Israel: Träumen vom Ende der Ära Bibi
Korruption, Corona, wirtschaftliche Nöte: In Israel befeuern sich unterschiedlich motivierte Proteste gegenseitig. Ihr Ziel ist dasselbe: Benjamin Netanjahus Abtritt.
Drastische Maßnahmen hatten dazu geführt, dass die erste Welle in Israel schnell abflachte und Mitte Mai die Anzahl der Neuinfektionen nur noch bei 10 bis 20 Neuinfizierten pro Tag lag. Doch die abrupte und fast vollständige Öffnung sorgte für eine zweite Welle, die erst an Fahrt aufzunehmen scheint. Am Mittwoch wurden mehr als 1.700 Neuinfizierte innerhalb von 24 Stunden gemeldet.
Die Verzweiflung vieler Israelis angesichts ihrer ökonomischen Situation und die Wut auf den wegen Korruption angeklagten Ministerpräsidenten und die Erosion der Demokratie, die viele Israelis beobachten, befeuern sich nun gegenseitig.
Am Dienstagabend protestierten Tausende vor der Residenz des israelischen Ministerpräsidenten im Zentrum Jerusalems und forderten Netanjahus Rücktritt. In der gleichen Nacht kam es in der Jerusalemer Innenstadt zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei. Mehrere Hundert Demonstrant*innen blockierten die Jerusalemer Tram. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein und ritt auf Pferden in die Blockade. Laut der Tageszeitung Haaretz gab es 50 Festnahmen.
Sozialarbeiter*innen und Ultraorthodoxe auf der Straße
Drei Tage zuvor, am vergangenen Samstagabend, protestierten mehr als Zehntausend auf dem Tel Aviver Rabinplatz gegen die Finanzpolitik der Regierung angesichts der ökonomischen Krise, in der sich das Land befindet.
Auch die Sozialarbeiter*innen des Landes streiken, mittlerweile in der zweiten Woche. Die Coronakrise habe zu einer noch größeren Überlastung gesorgt, und so fordern sie mehr Bezahlung und mehr Beschäftigte im sozialen Sektor. Auch die Krankenschwestern und Krankenpfleger beklagen mangelndes Personal und drohen mit Streik.
Mehrere Nächte in Folge randalierten außerdem in der vergangenen Woche verschiedene Gruppierungen von Ultraorthodoxen in Jerusalem und anderen Städten und protestieren gegen die Corona-Maßnahmen und die Schließung von Yeshivot, religiösen Schulen.
Seit einigen Wochen nimmt auch die Black-Flag-Bewegung, die sich den Kampf um die Demokratie und gegen Korruption auf die Fahnen geschrieben hat, an Fahrt auf. Jeden Samstag protestieren sie an zahlreichen zentralen Straßenkreuzungen im Land gegen den angeklagten Ministerpräsidenten.
Nur noch 29 Prozent vertrauen Netanjahu
Konnte Netanjahu Mitte Juni mit einer vermeintlichen Corona-Erfolgsgeschichte in Umfragewerten glänzen, verliert er nun immer mehr an Rückhalt, auch unter denen, die eigentlich an seiner Seite standen. Umfragewerte zeigen, dass nur noch 29 Prozent der Israelis Netanjahu vertrauen. Im März waren es 63 Prozent.
Viele Israelis hoffen nun, dass das Ende der Ära Netanjahu eingeläutet wird. Gayil Talshir, Professorin für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem, blickt zurück, um die Situation einzuordnen, und zieht eine Parallele zu den Zeltprotesten im Rothschild Boulevard im Jahr 2011, als Hunderttausende gegen die steigenden Lebenshaltungskosten protestierten.
„Bei dieser Menge an Demonstrant*innen sind wir noch nicht angekommen, und damals hat es nicht das Ende Netanjahus bedeutet.“ Doch die Öffentlichkeit sehe nun, wie Netanjahu sich um seine eigene finanzielle Situation und seine Gerichtsverhandlung in drei Korruptionsfällen kümmert und nicht um die Millionen Arbeitslosen und diejenigen, die unter der ökonomischen Krise leiden. „Das Gesicht dieser Proteste ist Netanjahu, und so sind die Proteste wohl nicht der letzte Sargnagel in seiner politischen Karriere, aber doch ein Nagel.“
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