Weihnachten als Gast: Ich bin ein Weihnachtsschmarotzer
Früher hat sich unser Autor an Weihnachten gelangweilt, weil seine Familie nicht feiert. Heute genießt er als Gast alle Vorzüge ohne Verpflichtungen.
F rüher mochte ich Weihnachten gar nicht. Weil meine Familie keine Weihnachten feiert und die Feiertage mich so gelangweilt haben. Heute liebe ich Weihnachten. Weil ich zum Weihnachtsfest anderer Menschen eingeladen werde und als Gast Vorzüge genieße, von denen Familienmitglieder nur träumen können.
Das Beste aus beiden Welten. So hatte der einstige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz mal den Koalitionsvertrag seiner ÖVP mit den Grünen genannt. Dabei passt diese Bezeichnung so viel besser zu meinen Feiertagen. Denn für mich bedeutet Weihnachten, dass ich das nehme, worauf ich Lust habe (gutes Essen, guter Wein, Geschenke), und darauf verzichte, worauf ich keine Lust habe (Streit, Stress, Geschenke kaufen – ich bin ja nur Gast).
Ich bin an Weihnachten das, wie sich die FDP einen Bürgergeldempfänger vorstellt: ein Schmarotzer, der alles bekommt und nichts dafür leistet – auch wenn es bei diesem schönen Fest natürlich um so viel mehr als Materielles geht, was ohnehin eine total überschätzte Kategorie ist, wie die postmateriellen Bürgergelddebatten erneut gezeigt haben.
Was mir dabei seit Schulzeiten zugute kommt, ist das Mitgefühl der linksliberalen Eltern von Freund:innen, das ich schamlos ausnutze. Es resultiert aus einer wilden Mischung aus Humanismus, Antirassismus und christlicher Nächstenliebe: Wenn wir schon nicht die Welt retten können, dann wenigstens einen proletarischen Ausländerjungen, wenn auch nur für ein paar Tage! In dieser Gedankenwelt bin ich so etwas wie Brot für die Welt, nur eben ohne lästiges Onlinebanking.
Erst das Weihnachtsfressen, dann die Moral
Diesen moralischen Ablasshandel kann man natürlich kritisieren. Schließlich macht er auch den Kern westlicher Entwicklungshilfe aus, die Ungleichheitsverhältnisse betoniert, statt sie abzuschaffen. Man kann natürlich auch eine Debatte über christliche Werte anzetteln. Aber haben wir das ganze Jahr über nicht genug gestritten? Wer bin ich Weihnachtsschmarotzer außerdem überhaupt, um diese netten Leute zu kritisieren, die mir zu essen und zu trinken geben? Und sowieso: Erst kommt das Weihnachtsfressen, dann kommt die Moral.
Doch auch ich habe, trotz aller Goodies, einen Preis gezahlt. Weil ich mich irgendwann entschieden habe, dieses christliche Fest mitzufeiern. Statt mit ihnen Jahr für Jahr durch leere Straßen zu streunen und über dieses blöde Weihnachten abzulästern, habe ich den Ärger meiner muslimisch sozialisierten Leidensgenossen auf mich gezogen. Was hätte ich tun sollen? Geteilte Langeweile ist doppelte Langweile.
Und wir konnten damals ja nicht mal in den Mediamarkt gehen, um die Vorführ-Playstation stundenlang zu besetzen, nur um danach wieder rauszugehen, ohne irgendetwas zu kaufen. Weil auch der Mediamarkt an Weihnachten zu hat. Heute findet man an Heiligabend selbst in einer so gottlosen Stadt wie Berlin kaum ein anständiges Lokal, das offen hat.
Mit dem Unmut kann ich mittlerweile aber gut leben. Auf den Vorwurf, ich würde meine religiöse und geografische Herkunft für Gans, Rotkohl und Klöße verkaufen, was eigentlich ein ziemlich guter Deal ist, entgegne ich mit Verweis auf ein populäres türkisches Sprichwort: „Nerede beleş oraya yerleş.“ Das lässt sich wortwörtlich etwas unschön mit „Wo es etwas gratis gibt, dort richte dich ein“ ins Deutsche übersetzen. Sinngemäß auf Schwäbisch klingt es viel besser: Amma gschenkta Gaul guckt ma net ins Maul.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland