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Was alte Fotos erzählenDiese Zeit vor Gender

Wer sich als Kind sieht, erfährt: Es war die Zeit, bevor wir zu bestimmten Spielzeugen geschubst und für bestimmte Verhaltensweisen gelobt wurden.

Einfach hereinspringen, zur Not halt in der Unterhose Foto: imago

E s gibt ein Kindheitsfoto von mir, das ich sehr liebe. Ich stehe in Unterhose in einer Art Tümpel, vielleicht ist es ein kleiner See, vor mir ein Fass, das uns Hortkindern auf unserem Ausflug als Bootsersatz gedient hat. Meine Frisur ist irgendwo zwischen Vokuhila und Michael J. Fox im Film „Zurück in die Zukunft“.

Zum einen liebe ich dieses Foto, weil es von einem echten Kamerafilm entwickelt wurde, wie man das in den Achtzigern eben so machte, und es deswegen in Kodak-Farben seine Wirkung entfaltet. Das Foto hat diese besondere Tiefe, bei der sogar Braun-, Beige- und Schlammtöne schön aussehen.

Zum anderen liebe ich dieses Bild, weil es aus einer Zeit kommt, in der es uns Kindern noch egal war, was wir anhatten. Wasser, in dem wir schwimmen konnten? Einfach hereinspringen, zur Not halt in der Unterhose. Das große Gendern, das über die Kleidung passiert, muss kurz danach gekommen sein.

Umso mehr ist das Tümpelbild mit dem Fass heute zu einem Schatz geworden. Im Gegensatz zur Erzählung vom Erwachsenwerden als exponenziell steigendem Zuwachs von Freiheit verläuft in so mancher queeren Zeitrechnung die Hinwendung zu anderen Gendermodellen genau in die andere Richtung.

Unfassbar heilsam

Sie nimmt dann die Form einer Rückkehr zum Wissen der Kindheit an. Sie wird zu einem Lernen von unserem jungen Ich. Sich zu erinnern, wie sie sich anfühlte, diese Zeit vor Gender, die wir vielleicht nur kurz erlebt haben, aber eben doch erlebt, kann unfassbar heilsam sein.

Wir erlebten sie, ja wir nahmen sie uns heraus, trotz des Babyblaus und des Babyrosas, trotz des Hingeschubst-Werdens zu bestimmten Spielzeugen und trotz des Lobs für bestimmte Verhaltensweisen.

Dieses Wiedererlernen, also ein wirkliches Wiedererlernen auf körperlicher, motorischer, sinneswahrnehmender Ebene, kann ein ganzes Leben andauern. Ich weiß zum Beispiel nicht, wann ich aufgehört habe, mich zu trauen, Anlauf zu nehmen, um in der Luft ein Salto zu schlagen und anschließend auf einer Matratze zu landen.

Stundenlang haben mein bester Freund und ich das im Hort gespielt. Seine Zeit vor Gender hieß, die Dinge sanft zu betrachten, auf den Fußballen zu laufen, seine Umwelt vorsichtig zu beobachten. Diese Vorsicht, nicht unbedingt im Sinne von Angst, sondern im Sinne eines Respekts für andere.

Männlichkeit braucht einen Platz in Queerness

Diese Empathie war es, die uns verband. Sie ist der Grund, warum Männlichkeit für mich unbedingt einen Platz in Queerness hat und jede feministische Vision sich fragen muss, was sie heute tun könnte, damit mein Freund damals genauso hätte weitergehen können.

Ich muss wieder an die blau und rot gestreiften Unterhosen denken, die ich in dieser Zeit immer mit Filzstiften zeichnete. Diese Unterhosen stapelten sich neben Pullovern, Jeanshosen und Schirmmützen ungefaltet übereinander bis an den Bildrand. So egal war mir Kleidung dann wohl doch nicht.

Parallel zeichnete ich kleine Bildergeschichten, auf denen Reisevorbereitungen stattfinden. Auf mit Tesafilm zusammengeklebten Notizzetteln sind in rotem Fineliner Schlauchboote gezeichnet. Darin liegen Paddel und Taucherbrillen, in Beiboote sind Schlafsäcke und unzählige Mitnehmbrötchen gepackt.

Das wird sie gewesen sein, die Ausrüstung, die wir zurück in die Zukunft brauchten.

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Noemi Molitor
Redakteur:in
Redakteur:in für Kunst in Berlin im taz.Plan. 2022-2024 Kolumne Subtext für taz2: Gesellschaft & Medien. Studierte Gender Studies und Europäische Ethnologie in Berlin und den USA und promovierte an der Schnittstelle von Queer-Theorie, abstrakter Malerei und Materialität. Als Künstler:in arbeitet Molitor mit Raum, Malerei und Comic. Texte über zeitgenössische Kunst, Genderqueerness, Rassismus, Soziale Bewegungen.
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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • es gibt keine Zeit ohne Gender - wir alle sehen schon als Kleinkinder, wer welchen Beruf ausübt, anstrebt, wer länger zu Hause Kinder betreut, wer was vom Leben zu erwarten hat, wer das Auto wäscht, wer in der Küche steht ... natürlich gibt es Ausnahmen - das Prinzip ist aber immer klar - auch wenn uns eine Weile ein Teil unserer Eltern als Kinder dort rauszuhalten versucht - gibt es Verwandte, Bekannte, ... es geht um Mehrheiten ... die Mehrheit ist genderbesetzt und besteht darauf.

  • "Diese Zeit vor Gender



    Wer sich als Kind sieht, erfährt: Es war die Zeit, bevor wir zu bestimmten Spielzeugen geschubst und für bestimmte Verhaltensweisen gelobt wurden."

    Und siehe, es war gut so.

    Ich sitze gerade an einem Buch vor Gender, die Biographie einer Frau, im Hintergrund der prägenden Intelligenzia aus den Anfängen der Republik und entdecke sehr viel Lebensfreude, Mut und einfach Machen und keinem schlechten Gewissen.

    Und so viel freier im Geist. Und so viel weniger Opfer.

  • Ich habe den Eindruck, dass die Kinder in ihrem Spiel damals (70er/ 80er) freier waren. Die Modefarben waren orange, braun und grün und die Beeinflussung durch Werbung stark begrenzt. Fernsehen abends eine halbe Stunde Sesamstraße - ohne Werbepause. Kein Amazon Prime, kein YouTube, kein Handyspiel. So konnte aus Langeweile Kreativität werden.

  • "trotz des Babyblaus und des Babyrosas"

    Die Autorin muss jünger sein als ich.

    Als Kind wusste ich nicht mal, dass rosa was mit Mädchen zu tun haben soll.

    Vor ein paar Jahren habe ich mir mein Klassenfoto aus der ersten Klasse im Hinbick auf unsere Keidung angesehen.

    Schujahr 1978/78.

    Bonbonfarben, wie Rosa und Hellblau, hatte niemand.

    Die kamen erst Mitte der 80er auf.

    Die Mädchen hatten ungefähr gleich viel Dunkelblau an wie die Jungs, Rot bei Jungs war normal.

    Ja, die Kleidung suchte man sich damals nicht allein aus.

    Man zog an, was die Eltern kauften.

    Hauptsache, es kratzte nicht.

    Geschlechtsneutrale Polyesterpullover waren verbreitet.

    Auch die Haarschnitte waren oft recht androgyn.

    Für Mädchen waren praktische Kurzhaarschnitte normal.

    Längere Haare hat auf meinem 1.-Klasse-Foto nur ein Mädchen.

    • @rero:

      Als Babyfarbe gab es rosa und hellblau schon in den frühen 70ern.



      Ich habe hier noch die hellblau und rosa umhäkelten Windeltücher liegen.



      Es kam nur niemand auf die Idee, einem Vorschulkind noch Babyfarben anzuziehen.

    • @rero:

      Naja, so richtig geht der Gender-Zwang auch erst um den Anfang der Pubertät los.