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Was Schüler:innen lesen müssenWeiß und autochthon

Die Pflichtlektüre in deutschen und österreichischen Schulen ist nicht nur sehr männlich – es fehlen auch Autor:innen mit Migrationshintergund.

Deutschsprachige Literatur hat mehr zu bieten als Schiller, Fontane, Mann und Kant Foto: Jens Schulze/epd/imago

A ls Kind habe ich meine Eltern nie lesen gesehen. Wir hatten auch kein Bücherregal daheim. Ich war erstaunt, wie viele meiner Klassenkolleg*innen sich die Schullektüre nicht kaufen mussten, weil sie ihre Eltern schon daheim hatten. Wenn ich bei ihnen zu Hause war, bewunderte ich die vollen Bücherregale. Ein volles Bücherregal setzte ich damals mit Wohlstand gleich.

Auf dem Gymnasium lasen wir Goethe, Schiller, Wedekind, Hoffmann, Hauptmann, Grillparzer – damals klangen die Namen für mich alle gleich, klassisch deutsche oder österreichische Namen eben. Literatur ist deutschsprachig, männlich und von Menschen mit deutschklingenden Namen – das brannte sich bei mir ein. Jetzt könnte man entgegnen, dass die Klassiker nun eben in einer Zeit verfasst worden waren, in denen es wenige weibliche Schriftstellerinnen gab, aber sogar die moderne Literatur, die wir lesen mussten – von Martin Suter oder Patrick Süskind, war größtenteils männlich „Wer in Deutschland Abitur macht, liest möglicherweise kein einziges Buch einer Frau“, schreibt Simon Sales Prado im Süddeutschen Magazin.

Wer in Deutschland Abitur und in Österreich die Matura macht, liest ziemlich sicher kein einziges Buch einer Person mit Migrationsgeschichte, wage ich zu behaupten. Ich habe in meiner Schulzeit zumindest kein einziges gelesen und dachte lange Zeit, Literatur wäre nur was für Österreicher*innen.

Nach der Matura studierte ich Germanistik. In meinem Studium kamen zwar mit Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann und Anna Seghers mehr weibliche Autorinnen dazu, aber auch hier nur deutschklingende Namen – klar, studierte ich doch schließlich Deutsch, das hielt ich folglich für normal. Dass es auch anders geht, habe ich erst am Ende meines Studiums begriffen, als ich meine Diplomarbeit über deutschsprachige Migrationsliteratur schrieb.

Literatur, in der man sich wiederfindet

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich darauf gekommen bin, weil ich Vorlesungen oder Seminare zu dem Thema besuchen musste, tatsächlich gab es aber kein einziges dazu, ich stieß aus rein persönlichem Interesse darauf, weil ich mich irgendwann fragte, wie es denn sein kann, dass Menschen wie ich keine Bücher schreiben, dass wichtige literarische Auszeichnungen im deutschen Sprachraum hauptsächlich noch immer an Menschen ohne Migrationsgeschichte verliehen werden.

Als ich letztes Jahr an einer Wiener Schule selbst Deutsch unterrichtete, legte ich meinen Klassen Textproben drei verschiedener Werke ohne Titel und Namen der Autorin*innen vor und sie durften abstimmen, welches wir als Klassenlektüre nehmen. Bei der Auswahl war mir wichtig, dass die Protagonist*innen nicht alle weiß und die Autor*innen nicht alle autochthon waren. Weil ich weiß, was es für mich als Schülerin bedeutet hätte, mich in Literatur repräsentiert zu sehen. Gerade für Kinder wie mich, die von zu Hause keine Literaturerziehung mitbekommen, ist Schule der einzige Ort, der einem die Welt der Literatur eröffnet. Wäre diese Welt damals bei mir nicht so eng ausgefallen, hätte ich nicht so viel Lebenszeit im Glauben verschwendet, Literatur wäre nur was für Österreicher*innen.

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Melisa Erkurt
Autorin "Generation haram", Journalistin, ehemalige Lehrerin, lebt in Wien
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6 Kommentare

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  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    In der Grundschule meiner Tochter gibt es keinen einzigen Lehrer. Keine Lehrerin hat einen Migrationshintergrund. Das Leben scheint nicht viel für Quoten übrig zu haben.

  • Und? bin neugierig,was haben die Kinder gewählt haben? ;-)

  • Zum Ausgleich sind alle Deutschlehrerinnen (mit kleinem Binnen-i)

  • Das Argument "dass die Klassiker nun eben in einer Zeit verfasst worden waren, in denen es wenige weibliche Schriftstellerinnen gab" halte ich keineswegs für überholt.

    Fakt ist, dass der Großteil der in der Schule behandelten Literatur (zum Leidwesen vieler Schüler) aus der entfernten Vergangenheit stammt. Das in der Literatur des 18. Jahrhunderts Frauen oder Autor:innen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert sind, überrascht ja auch die Kolumnistin nicht.

    Martin Suter oder Patrick Süskind tauchten in meinem Deutsch-Grundkurs nicht auf, ich kann mich jedoch erinnern, dass zumindest letzterer in Form von "Das Parfum" im parallelen Deutsch-Leistungskurs behandelt wurde. Hier sei angemerkt, dass "Das Parfum" 1985 veröffentlicht wurde. Das mag literarisch vielleicht als Moderne gelten, ist aber mittlerweile auch schon 35 Jahre her. Und vor 35 Jahren war die Welt halt noch eine andere...

    Man könnte sich natürlich mal den Spaß machen und recherchieren, wie viele Werke 1985 von Frauen verfasst bzw. veröffentlicht wurden oder generell Erfolg hatten. Dann hätte man ggf. Zahlen, auf deren Grundlage man diskutieren könnte. Ist mir persönlich aber zu mühselig.

    Eine Abstimmung über die im Unterricht behandelte Literatur ist aber in jedem Fall ein Fortschritt!

  • Auch ich bin außerhalb der Bundesrepublik geboren. Auf die Idee, ein volles Bücherregal mit Wohlstand gleichzusetzen, wäre ich allerdings nie gekommen als Kind. Es mag in meinem Herkunftsland vieles gefehlt haben - an Büchern aber war nie ein Mangel. Und wenn sie nicht im elterlichen Regal gestanden haben, ließen sie sich in öffentlichen Bibliotheken ausleihen.

    Vermutlich war der Umstand, dass auch in meiner

    • @mowgli:

      Ein gut gefülltes Bücherregal hat eher mit Bildung denn mit Wohlstand zu tun. Das haben auch einschlägige wissenschaftliche Studien schon belegt. Im Elternhaus wird der Habitus geprägt (siehe Pierre Bourdieu).