Was Ostdeutschland anders macht: Ein Jahr Osten
Im Fokus der taz-Berichterstattung standen in den letzten zwölf Monaten die Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Ein persönlicher Rückblick.
Der Sommer ist vorbei, die Hoffnung dahin. Das diesjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution löst diesmal keine Feierlaune in mir aus. Vor zehn Jahren noch fühlte ich diesen Jahrestag anders. Auf meinem Telefon verwahre ich ein Bild von Freund*innen und mir vom 9. November 2014 auf der Oberbaumbrücke. Wir spazierten in Berlin entlang einer Lichtgrenze, 6.880 weiße Ballons auf hohen Stangen markierten die ehemalige Grenze. Die Grenze, die uns umgab, als wir geboren wurden.
Auf dem Foto strahlen wir, weil die Installation schön, die Gemeinschaft mit vielen Tausend anderen Flaneur*innen bewegend und die Zukunft mit Hoffnung gefüllt war. Die Realität von heute hatte sich zu diesem Zeitpunkt aber schon gezeigt: Kurz zuvor, im Spätsommer, zog die AfD erstmals in die Landesparlamente von Brandenburg, Sachsen und Thüringen ein. Ich komme aus Sachsen. In Dresden bin ich geboren und aufgewachsen und dann, wie so viele, weggezogen.
Familie und Freund*innen verbinden mich weiterhin mit meiner Heimat. Weil ich diese meine Heimat kenne, überraschen mich die Wahlerfolge der AfD nicht, doch die fortschreitende Normalisierung der dazugehörigen Menschenfeindlichkeit beschäftigt mich. Gerade, weil meine Heimat so wunderschön ist. Gerade, weil ich weiß, wie viele kluge und engagierte Menschen dort leben und sich zum Teil seit Jahrzehnten gegen Rechtsextremismus und für den Schutz von Minderheiten einsetzen. Genau diese Menschen haben schon früh mit Sorge auf die Landtagswahlen in diesem Jahr geblickt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Mehr als 350 Texte zum Thema
Auch die taz hat sich ausführlich mit den Kommunal- und Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen beschäftigt. Unter dem Motto „Was auf dem Spiel steht“ haben wir rund 350 Texte zum Thema veröffentlicht, einen Fokus unserer Social-Media-Präsenz auf Ostdeutschland gerichtet. Auf drei ganztägigen lokalen Kongressen in Erfurt, Chemnitz und Cottbus diskutierten wir in Kooperation mit der taz Panter Stiftung mit Zivilgesellschaft, Politik und knapp 400 Besucher*innen vor Ort. Der große, jährlich stattfindende taz Kongress, das tazlab, war im April ganz dem Osten verschrieben.
Wir haben in diesem besonderen Jahr mit freien Medien wie dem Veto Magazin aus Dresden und Radio F.R.E.I. aus Erfurt zusammengearbeitet, literarische Betrachtungen der Autorinnen Manja Präkels, Barbara Thériault und Tina Pruschmann veröffentlicht, unsere Überlandschreiberinnen. taz-Redakteur*innen haben in den Mittelstädten Ilmenau, Senftenberg und Zittau gelebt und diese beschrieben. Die taz Panter Stiftung hat mit über 50 jungen Menschen vor Ort drei Sonderausgaben zu den Bundesländern publiziert und drei Preise für zivilgesellschaftliches Engagement verliehen.
Die taz ist wie keine andere Zeitung in Deutschland mit der Zivilgesellschaft verbunden – aus ihr sind wir entstanden, und sie ist es bis heute, der unser Fokus gilt. In Ostdeutschland reicht sie von der Antifa bis Omas gegen rechts. Sie stehen in der Tradition der Friedlichen Revolution vor 35 Jahren, denn sie gehen für die Demokratie auf die Straße. Demokratie, das bedeutet Freiheit für alle, Pluralismus, Schutz von Minderheiten. Und Demokratie bedeutet, frei wählen zu können. 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution haben die Bürger*innen in drei Landtagen die AfD zur stärksten oder zweitstärksten Kraft gewählt. Natürlich beschäftigt auch mich die Frage: Warum?
Zusammen mit dem Rechtsextremismusinstitut der Universität Tübingen haben wir in diesem Jahr Daten ausgewertet, um zu erkennen, wie Wahlerfolge der AfD mit strukturellen Eigenschaften der Gemeinden zusammenhängen. Wachsende und wohlhabendere Gemeinden wählen seltener die AfD. Dies allein reicht als Erklärung für die Wahlergebnisse in einzelnen Gemeinden allerdings nicht. Ein entscheidender Faktor ist die politische Kultur.
Sensibilisierung auf rechtsextreme Propaganda wirkt
Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen erhielt die AfD deutlich weniger Stimmen in Gemeinden, in denen das Stadtoberhaupt sich klar gegen die AfD ausspricht und auch entsprechend handelt. Im Brandenburger Michendorf setzte sich die Oberbürgermeisterin dafür ein, dass die AfD keine Bürgerdialoge in kommunalen Gebäuden abhalten kann. Im sächsischen Markkleeberg unterstützt der Oberbürgermeister die lokale Polizei und Sicherheitsbehörden, die auf rechtsextreme Propaganda sensibilisiert sind und diese auch an öffentlichen Orten entfernen.
Wenn sich die Rechtsextremen nicht festsetzen können, können sie auch keine kontrafaktischen Themen setzen. Im sächsischen Taucha etwa ist die Kriminalität geringer, die Präsenz der Sicherheitsbehörden vor Ort höher als im strukturell ähnlichen Markkleeberg – aber die Menschen fühlen sich unsicherer, weil ihnen Rechtsextreme dies von früh bis spät vermitteln.
Meine taz-Kollegin Malene Gürgen schrieb: „Dort, wo es eine starke, gut organisierte Zivilgesellschaft gibt, hat es die AfD schwer.“ Und das stimmt auch für Wahlhausen in Thüringen, das von einer sehr umtriebigen Gemeinschaft geprägt ist. Diese Gemeinschaft sieht sich gar nicht als besonders links oder anti-rechts: Sie engagiert sich für die Restaurierung der Kirche und für neue Umkleidekabinen am Sportplatz. Es lohnt sich, sehr genau auf diejenigen zu schauen, die sich der politischen Polarisierung entziehen.
Wie Texte den eigenen Blick verändern können, hat mir die Autorin Barbara Thériault bewiesen, eine der Überlandschreiberinnen. Barbara formulierte unverwüstlich optimistisch und konnte dies, weil sie auch genau so auf Thüringen geblickt hat: optimistisch. Einen Regionalzug in Thüringen von Erfurt nach Meiningen beschrieb sie als den kosmopolitischsten Ort des Landes: „Allerhand Sprachen waren zu hören, vor allem Arabisch, aber auch Kurdisch, Ukrainisch, sogar meine Muttersprache (Französisch; d. Redaktion). Es herrschte ein fröhliches Durcheinander.“
Ich dachte: Was für eine schöne, poetische, aber eindeutige Überhöhung! Bis ich Wochen später spät abends in einem Regionalzug von Chemnitz nach Dresden saß und es ganz genauso erlebte. Ich hatte mich auf die Neunzigerjahre gefasst gemacht und saß stattdessen zwischen lauter munteren jungen Leuten ohne Glatze, mit verschiedenen Sprachen und guter Laune. Ostdeutschland ist längst viel diverser geworden und trotz der hohen rassistischen Gewalt gibt es auch einen Alltag, der friedlich und bereichernd ist.
Linke Gegenöffentlichkeit in den sozialen Medien fördern
Als Medium vom Alltag zu erzählen, ist schwer. Natürlich geht das, es gibt Formate dafür, es gibt Plattformen und Zeitungen, die sich dem Alltäglichen widmen. Aber wer von den vielen Stimmen, die sich über eine einseitige Berichterstattung über Ostdeutschland beschwert, schaut sich so genau verschiedene Medien an? Ich war überrascht, wie stark junge Menschen von einer als einseitig empfundenen Medienberichterstattung sprachen – und größtenteils nur das konsumieren, was über Social Media bei ihnen ankommt, gefiltert durch algorithmische Aufmerksamkeitsspiralen.
Ich hatte nie daran geglaubt, dass unsere Arbeit in der taz das Ergebnis der Wahlen in diesem Jahr maßgeblich beeinflussen würde. Aber ich hatte gehofft, dass endlich gesehen wird, dass etwa die taz eine sehr starke, sehr ausgewogene Berichterstattung über den Osten pflegt – nicht erst seit diesem Jahr.
Überhaupt ist doch in den letzten Jahrzehnten eine Fülle an Büchern erschienen, es wurde viel Kluges und viel Dummes gesagt und geschrieben in vielen überregionalen Medien, viel Verständnis gehabt und viele Spiegel vorgehalten. Ich denke öfter, dass es doch mal langsam reicht mit dem Verstehen und Erklären und Anprangern. Aber dann wird über den Abtreibungsparagrafen 218 gesprochen, als ob er nicht in einem Teil von Deutschland schon einmal abgeschafft worden wäre.
Da ist ein Hin und Her in meinem Kopf. Einerseits der Wunsch nach Normalität, gleichzeitig die Notwendigkeit, Unterschiede zu formulieren, um Verständnis und Erkenntnis zu erlangen. Der MDR fragte in diesem Jahr fast 25.000 Menschen aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, was sie von der anhaltenden Diskussion über Ost und West halten. 50 Prozent halten sie für notwendig, 48 Prozent für nervig. Ich würde beides antworten. Ich kann wirklich keine Formulierungen mehr hören, die Ostdeutsche für ihr rassistisches Wahlverhalten in Schutz nehmen, weil: schlimme Transformationserfahrung! Sofort zähle ich diese aber verteidigend auf, wenn irgendein Mensch mit westdeutscher Karriere meint, die Ostdeutschen seien einfach verloren.
In Deutschland werde ich aus diesem Dilemma nicht rauskommen. Steffen Mau beschrieb in „Ungleich vereint“ dieses Jahr sehr treffend, dass der Osten anders bleiben wird. Zumindest anders als der Westen Deutschlands. Und dies ist auch nicht auf allen Ebenen bedauernswert: In Ostdeutschland gibt es viel mehr Kitaplätze als im Westen. Da werden wir uns doch nicht dem Westen anpassen wollen? So geht das in meinem Kopf, in dieser Zeitung und in vielen Debatten munter vor und zurück. Wo soll das hinführen?
Die nächsten Landtagswahlen in Ostdeutschland werden kommen; je nach Ergebnis der Koalitionsverhandlungen vielleicht schon früher als gedacht. Natürlich würde ich wieder nach der Zivilgesellschaft schauen. Aber ich denke, wir sollten auch mehr auf diejenigen schauen, die sich weder als rechts noch als links oder antifaschistisch bezeichnen. Wir sollten mehr verstehen, ohne Verständnis haben zu müssen. Und wir sollten den Blick international weiten.
Nach der Wahl besuchte ich meinen Bruder, der für einen Monat in Paris lebte. Er war gerade fern von den Erklärungsversuchen dieses Landes, warum im Osten wieder einmal so rechts gewählt wurde. Seine französischen Kollegen leben schließlich in derselben Realität wie so viele andere in Europa und der ganzen Welt auch. Das heitert an dieser Stelle die Stimmung nicht unbedingt auf und macht nicht das Fragen nach Handlungsoptionen obsolet, aber es befreit mich aus den schaulustigen westdeutschen Blicken, die durchaus mit einem gewissen Unterton fragen, was denn nun mit dem Osten los sei.
Ostdeutschland und Frankreich vereint im rechten Zeitgeist – die Westöffnung hat sich vor 35 Jahren sicherlich niemand so vorgestellt. Ich gehöre zu derjenigen Generation, die die Friedliche Revolution nicht direkt mitbekommen hat, vier Jahre war ich alt. Und doch weiß ich sehr genau, dass mein Leben im Ganzen anders gewesen wäre, würde mein Land immer noch eine Mauer umgeben.
Ich könnte etwa keinen freien Journalismus ausüben, freie Wahlen würden gar nicht stattfinden. Dass dies alles möglich ist und möglich wurde, gibt mir Hoffnung. Denn wenn Menschen eine Diktatur friedlich stürzen können, können sie auch eine Demokratie retten.
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