Waldumbau in Thüringen: Schlag um Schlag
Eine Bürgermeisterin will Fällarbeiten in einem Vogelschutzgebiet verhindern. Das Forstamt sagt, sie behindere damit sinnvollen Naturschutz. Aber wer kontrolliert, was das ist?
W ie schafft diese Frau das so schnell über den schlammigen Waldweg, ohne auszurutschen? Zielstrebig umkurvt sie Matsch und Pfützen, springt mal links, mal rechts auf den hohen Wegrand und ist schließlich am Ziel. „Jetzt schau’n Sie sich das an“, ruft sie mit ihrem breiten oberbayerischen Zungenschlag. Sie starrt auf die weite Fläche vor ihr. „Ich könnt heulen.“
Die weite Fläche, deren Anblick Daliah Natascha Bothner so bewegt, war mal ein Fichtenforst. Jetzt bilden Äste und Nadeln ein federndes, kniehohes Gewirr. Behende klettert Bothner, ehrenamtliche Bürgermeisterin von Grumbach, einem Ortsteil von Wurzbach ganz im Süden von Thüringen, darüber hinweg. Die Bürgermeisterin erklimmt einen breiten Baumstumpf und reckt ihren Kopf. Eine kleine, schlanke Frau, die schwarzen Haare elegant zurückgesteckt. So steht sie an einem eher trüben Tag im Juli auf dem Baumstumpf und späht wütend zum Waldrand.
Vor zehn Jahren ist Bothner vom Tegernsee nach Grumbach gekommen. Als Orientierungspunkt die nächstgrößere Stadt zu nennen ist schwierig. Grumbach liegt irgendwo im Grünen zwischen Hof, Jena und Suhl, an der Landesgrenze zu Bayern. Die Gegend ist sanft hügelig, waldreich und beschaulich. Für die Bergkuppe bei Grumbach gilt das allerdings nicht mehr.
Dort, im Blickfeld von Bothner, arbeitet ein Harvester, eine baggergroße Erntemaschine mit langen Greifarmen, die Baumstämme packen, abschneiden und umlegen können, als wären sie Grashalme. Sie schnappen sich eine Fichte, sie wackelt kurz, es staubt, es kracht, dann liegt sie. Brutal sieht das aus. Äste ab, Krone ab, in Sekundenschnelle wird aus dem Baum ein Stamm, der auf einem großen Stapel landet. Eine zweite Erntemaschine greift ihn und transportiert ihn schwankend über das Ast-Nadel-Dickicht zum Waldweg. Dort schichtet sie den Stapel auf einen noch größeren Stapel; in Lkw-Höhe säumt er den Waldweg. Dahinter noch einer und noch einer. „Das war mal ein Wanderweg“, sagt Bothner und bahnt sich hüpfend einen Weg zurück: „Den haben sie total zerstört.“
Seit März verwandeln Erntemaschinen den Fichtenforst auf der Bergkuppe nahe dem Örtchen in eine Reihe von harzig duftenden Holzstapeln. Sie arbeiten im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), vor Ort vertreten durch ihren zuständigen Bundesforstbetrieb Thüringen-Erzgebirge – der Forst ist ein Staatswald. Er ist zugleich auch ein Vogelschutzgebiet nach europäischem Recht und entsprechend streng geschützt, der Schwarzstorch kommt hier vor.
Die Fällarbeiten in diesem Forst, ist Bothner deshalb überzeugt, sind illegal. Sie ist auch davon überzeugt, dass dort Windkraftanlagen gebaut werden sollen, am Willen der Bürger vorbei. Eine objektive Grundlage für Bothners Windkraft-Befürchtungen gibt es allerdings nicht, doch um Windkraftanlagen soll es hier auch nicht gehen. Seit März, seitdem die Holzfäller unterwegs sind, liegt Bothner nächtelang wach, sie schaltet frühmorgens um drei Uhr ihren Rechner an und googelt nach Möglichkeiten, die Erntemaschinen zu stoppen.
Sie hat sich an die Forstverwaltung gewandt, an Naturschutzverbände, an das Bundesamt für Naturschutz, an die Kriminalpolizei, das Bundesumwelt-, das Bundesjustiz- und das Landwirtschaftsministerium, und auch an die EU-Kommission. Es könne doch nicht sein, sagt sie, dass mitten in der Brutzeit ein streng geschütztes Vogelschutzgebiet abgeholzt wird: „Ich darf in der Zeit nicht mal meine Hecke schneiden, und die räumen hier den ganzen Wald ab?“
Tatsächlich erscheint Bothners Frage nicht abwegig. Weil der Zustand der Natur in Europa sich rapide verschlechtert, schreiben EU-Kommission, Parlament und Rat seit Anfang Juli am „Nature Restauration Law“, dem EU-Renaturierungsgesetz, das Schutzgebiete mit konkreten Vorgaben und Maßnahmen wieder in gute Lebensräume verwandeln soll. Wie kann es also sein, dass in einem Schutzgebiet die Harvester anrücken?
Zuständig für das Vogelschutzgebiet bei Grumbach sind, einige Ebenen unterhalb der EU-Kommission, zunächst mal: Heiko Günther und Veit Müller. Günther, 55, leitet den Fachdienst Umwelt des Landkreises Saale-Orla-Kreis und ist somit unter anderem auch Chef der unteren Naturschutzbehörde. Die muss den gesetzlichen Artenschutz im Landkreis überwachen und durchsetzen. Müller, 32, ist seit Anfang des Jahres stellvertretender Leiter des Forstamtes Schleiz. Günther hat sich im türkisfarbenen Poloshirt hinter den Besprechungstisch seines schmalen Büros im Landratsamt Schleiz gequetscht und erklärt geduldig, wie seine Behörde den Artenschutz bei Grumbach sicherstellt. Und dass die Fällmaßnahme den Wald nicht vernichten, sondern schützen soll.
Der zuständige Förster des Bundesforsts Thüringen-Erzgebirge hatte im Frühjahr das Gespräch mit dem Forstamt Schleiz gesucht. Wie an vielen Stellen in der Region hatte der Borkenkäfer die Fichten auch in den bundeseigenen Forsten bei Grumbach befallen. „Normalerweise würde sich eine gesunde Fichte gut gegen den Käfer wehren können“, schreibt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben in Bonn auf Nachfrage. „Wenn er sich in die Rinde bohrt, sondert der Baum Harz ab und tötet so den Käfer. Nur wenige Exemplare schaffen es dann einzudringen und sich dort zu vermehren.“
Aufgrund der Trockenheit der vergangenen Jahre seien die Fichten jedoch häufig so geschwächt, dass sie nicht mehr ausreichend Harz produzieren könnten, der Borkenkäfer könne die Fichten ungehindert befallen, sich explosionsartig vermehren und so auch gesunde Bäume und ganze Forste vernichten. Deshalb sei es „dringend notwendig, befallene Bäume zu fällen und aus dem Wald zu entfernen, bevor sich die Borkenkäfer fertig entwickelt haben“, so die Bundesanstalt.
Im Fall Grumbach lief die Sache so ab, wie sie üblicherweise abläuft: Der Förster des Bundesforstes wandte sich an die Kollegen vom Forstamt Schleiz. Der Bundesforst fungiert als Überwachungsbehörde und übernimmt hoheitliche Aufgaben. Auf die Frage, ob man sich in Grumbach durch die behördlichen Maßnahmen überwacht fühle, lächelt Müller: „Wir besprechen sie“, sagt er.
Leuchten die Maßnahmen ein – und das sei in Grumbach der Fall gewesen, der Borkenkäfer müsse bekämpft werden, sagt Müller –, dann füllt der Bundesförster ein Formular aus, eine sogenannte Erheblichkeitsprüfung. In diesem Formular wird abgefragt, ob die Maßnahme einen „erheblichen Eingriff“ in das Schutzgebiet bedeutet. Die Einschätzung, ob ein Einschlag in einem Forst einen erheblichen Eingriff darstellt, nimmt also der Förster vor, der den Einschlag plant.
„Ein erheblicher Eingriff wäre etwa, wenn der Horst eines Schwarzstorches betroffen wäre“, sagt Müller. Wenn es Vorkommen von geschützten Tieren gebe, wie etwa Schwarzstorch oder Haselhuhn, dann lege man dort auch ein Augenmerk drauf, „wir gehen ja nicht mit geschlossenen Augen durchs Kreisgebiet“. Das Formular geht an die untere Naturschutzbehörde, dort wird es abgeheftet. Eine Prüfung erfolgt nur bei einem begründeten Verdacht auf eine erhebliche Beeinträchtigung. Ist der Eingriff nicht erheblich, kann die Maßnahme stattfinden. Ist er erheblich, wird weiter geprüft.
Bei der Maßnahme in Grumbach sei das nicht nötig gewesen, sagt Günther. Ein Kahlschlag, wie die Ortsbürgermeisterin kritisiere, werde dort auch gar nicht durchgeführt. Bei „Borkenkäfersanierungsmaßnahmen“ handele es sich aus rechtlicher Sicht auch nie um Rodungen und Kahlschläge, sagt Förster Müller. Der Waldbesitzer sei gar zu Fällarbeiten verpflichtet, weil umliegende Waldflächen gefährdet seien und eine weitere „rasante Verbreitung des Borkenkäfers dem Gemeinwohl der Gesellschaft“ entgegenstehe.
Also hat die untere Naturschutzbehörde die Sache zu den Akten gelegt – bis Bürgermeisterin Bothner loslegte.
Eine einzelne Mitarbeiterin hat Günther in seiner unteren Naturschutzbehörde, die für den Artenschutz zuständig ist. „Sie macht den gesamten Artenschutz in den Biotopen, aber sie überwacht auch die Exoten, Vogelspinnen, Papageien, Schildkröten und so weiter“, sagt Günther. Die Mitarbeiterin kontrolliert also das Forstamt und stellt sicher, dass es den Artenschutz berücksichtigt? Günther und Müller lachen. „Ich würde nicht von kontrollieren, sondern vielmehr von einem Zusammenspiel sprechen“, sagt Günther. Es müsse ja nicht sein, dass die Verwaltung sich gegenseitig beschäftige, sagt Müller.
Ob die Mitarbeiterin regelmäßig ein Monitoring der Arten in den Schutzgebieten des Kreises durchführe? Günther guckt ungläubig. „Dazu kommt sie doch gar nicht“, sagt er, „das Monitoring macht das Land.“ Wie oft? Die Schutzgebiete würden auf jeden Fall gut gemanagt, sagt er. Und, fügt er hinzu, dass die Gesetzgeber in Berlin und Brüssel sich überlegen müssten, wer das vor Ort alles umsetzen solle, was sie so beschließen. Jede neue Bestimmung über Grenzwerte in Industrieanlagen, neue Vorschriften für Verpackungsabfälle, Gewässer- oder eben Artenschutz – all das müssten sie hier im Kreis überwachen und durchsetzen.
Wie viele Mitarbeiter:innen er bräuchte, um mögliche neue Aufgaben nach dem geplanten EU-Renaturierungsgesetz in Vogelschutz- und FFH-Gebieten zu übernehmen, will er nicht abschätzen, „ich kenne ja das Gesetz noch nicht einmal“. Dass seine einzige „Sachbearbeiterin Artenschutz“ keine freien Kapazitäten mehr hat, braucht er nicht dazusagen; von zusätzlichem Geld für Landkreise und Kommunen, von denen langfristig Stellen finanziert werden könnten, ist bislang nicht die Rede.
Fehler habe seine Behörde in dem Vogelschutzgebiet bei Grumbach jedenfalls nicht gemacht, sagt Günther, alles sei ordnungsgemäß geprüft worden – erst recht nach den Einwänden von Bürgermeisterin Bothner. Da habe es sogar Ortstermine gegeben, man habe sich das persönlich angeschaut. Natürlich sei so eine großflächige Fällung ein krasser Eingriff, der die Landschaft verändere, sagt Förster Müller. „Das Problem verursacht der Klimawandel“, sagt er, „wir werden die Wälder so, wie wir sie kennen, nicht halten können“. Er verstehe, dass das die Bevölkerung verunsichere.
Dabei, sagt Silvester Tamás, seien sichtbare, flächendeckende Fällungen wie bei Grumbach ja nicht mal das größte Problem des Thüringer Waldes. Tamás sitzt auf einer Bank mit Blick in die Gleistalhänge, eine Landschaft wie gemalt. Sanft schwingen sich grün bewaldete Hügel, am Horizont scheinen sie dunkelblau. In den Tälern goldgelbe Stoppelfelder, dazwischen ein Dorf. Sanft fällt Landregen auf die Wiese vor der Bank, „endlich mal“, sagt Tamás, der sich beim Naturschutzbund Nabu Thüringen um Beutegreifer kümmert, also um Wolf, Wildkatze und Luchs. Und Tamás kümmert sich um den Wald.
Auch hier bei Tautenburg, nördlich von Jena, war es im Juli heiß und trocken. Jetzt ist es angenehm, das richtige Wetter für einen Spaziergang. Der Wald duftet im Regen, sattgrün glänzen die Blätter der Buchen und Eichen, ein nach der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtline, kurz FFH, geschützer Waldmeister-Buchenwald. „Eigentlich“, sagt Tamás wandernd, „müssten die Bäume hier ein geschlossenes Krondach bilden, und sie müssten sooolche Umfänge haben“. Weit breitet er die Arme aus. Fledermäuse fänden in dicken, alten Stämmen Nistplätze, am Abend könnten sie zwischen ihnen über den freien Boden segeln und Insekten jagen.
Aber statt dicker Stämme und geschlossenem Krondach spaziert der Wanderer durch dichtes Grün, nur die Rückegassen alle 20 Meter geben den Blick ins Waldinnere frei. Sieht idyllisch aus, saftig und gesund – Wald eben. „Das sieht vielleicht gut aus“, sagt Tamas, „ist es aber nicht.“ Die regelmäßige „Durchforstung“ des Waldes, also die Entnahme besonders alter, mächtiger Bäume, bringe seine Struktur durcheinander. Werde das Krondach eingerissen, erhitze sich der Waldboden an dieser Stelle und trockne aus. Jeder Quadratmeter Sonne, der hier einfalle, sorge für mehr Hitzestress. „Die Sonne frisst sich in den Wald“, sagt Tamás, „das macht die umliegenden Bäume krank.“
Einen geschützten Wald wie den von Tautenburg müsse man einfach in Ruhe lassen, der brauche auch keine Pflege. Der dichte Bewuchs junger Bäume – „Krautwald“, sagt Tamás abfällig, biete keinen Lebensraum für Fledermäuse und Insekten. Aber ist er nicht immer noch besser als gar kein Forst mehr, wie bei Grumbach?
Tamás kennt den Fall Grumbach, auch ihn hat Bothner um Hilfe gebeten. „Man kann als Naturschützer darüber streiten, ob man die Fichten dort wirklich fällen muss“, sagt der studierte Archäologe und Historiker, „der Borkenkäfer ist doch schon längst ausgeflogen.“ Und wenn man die Bäume fälle, dann solle man wenigstens das Totholz vor Ort lassen und nicht abtransportieren. „Aber“, fügt Tamás an, „richtig schade ist es um den Fichtenforst nicht, der ist unter den heutigen Klimabedingungen sowieso nicht zu retten“.
Trotzdem hält er das Engagement der Ortsteilbürgermeisterin für wichtig: „Wir brauchen solche Leute, die den Forstämtern und Umweltbehörden helfen, ihre Fehler zu korrigieren.“ Er selbst habe jahrelang versucht, in gemeinsamen Projekten mit ihnen partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. „Inzwischen habe ich gelernt, dass das nichts bringt.“ Der Staat sei Waldbesitzer, Waldverwalter und Waldschützer in einem, „die kontrollieren sich selbst“. Das könne ja nicht gut gehen, „und das geht auch nicht gut“. Der Thüringer Nabu bereitet derzeit eine Klage gegen die ThüringenForst vor, die landeseigene Forstverwaltung, wegen unrechtmäßiger Eingriffe in geschützte Wälder.
Bernhard Zeiss, Leiter des Forstamts Jena-Holzland, holt tief Luft, als man ihm das am Telefon berichtet. Selbstverständlich würden auch in FFH-Gebieten alte Bäume gefällt, „wenn es dem Managementplan des Gebiets entspricht“. Sei beispielsweise vorgesehen, dass in einem Gebiet Eichen wachsen, müsse man Buchen entnehmen, um den lichtliebenden Eichen Raum zu geben.
Der Tautenburger Wald sei auf dem Weg zum Dauerwald, mit einer natürlichen Verjüngung. „Unter dem Dach der großen Bäume stehen seit Jahrzehnten die jungen, die ans Licht wollen und die jetzt übernehmen“, sagt Zeiss. Auch in einem naturnahen Wald sterbe einmal ein großer Baum ab und lasse Licht auf den Waldboden.
Er verstehe das ja, sagt Zeiss, „natürlich würde sich der nichtstaatliche Naturschutz freuen, wenn er mehr mitreden dürfte im Wald, genau wie die Jäger, Brennholzerwerber, die Holzindustrie, der Staat, der Geld braucht, die Jogger, die Wanderer“. Sie, die Förster, müssten all diese Ansprüche gegeneinander abwägen.
Das klingt vernünftig, einerseits. Es funktioniert aber, andererseits, in den Augen von Bothner und Naturschützer Tamás nicht effektiv. Das ist wohl das Problem, dass der Wald im Klimawandel und alle, die an ihm ein Interesse hegen, eigentlich haben: dass es bislang keinen Ort gibt, an dem all diese Interessen gerecht und auf Augenhöhe verhandelt werden können.
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