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Wahlplakate zur BundestagswahlDie Scheiße fällt nach oben

Kommentar von Arto Liber

Berlin ist zuplakatiert. Ganz oben an den Laternen hängt Menschenfeindlichkeit mit unnützen Ausrufezeichen. Eine Polemik zum Bundestagswahlkampf.

Trostlosigkeit im Morgengrauen: Wahlplakate in Berlin Foto: Kay Nietfeld/dpa

D as Einzige, was man über Politik in Berlin wissen muss, ist, dass sie nicht der Gravitation gehorcht: Die Scheiße fällt nach oben. Zumindest die politische. Wer einen analogen Eindruck über die Skalierung an Menschenfeindlichkeit in unserer Parteienlandschaft braucht, muss sich zu Wahlkampfzeiten nur einen Laternenmast anschauen.

Angeführt wird die Skala des Grauens von denen, die mit Leitern so weit oben wie möglich Wahlplakate montieren: außer Reichweite des bösen Migranten. Immer begleitet von Worten wie: Heimat! Sicherheit! Grenzen! Und Sätzen, die uns angeblich dabei helfen sollen, unsere Identität zu verorten. Uns klarzumachen, ob wir Feind oder Freund sind. Drinnen oder draußen. Oder zumindest, wo wir hingehören – in den Augen des Privilegs.

„Zeit für eine Migrationswende!“, „Zeit für Abschiebungen!“, „Zeit für innere Sicherheit!“: Die AfD mag anscheinend nicht nur Leitern, sondern auch Ausrufezeichen! Ihnen sollte mal jemand sagen, dass diese fetzigen Dinger Sonderzeichen sind! Vielleicht würde sie das abschrecken!

Antifas tragen zu selten Leitern mit sich rum

Diese Plakate hängen immer ganz oben. Schon bemerkt? Es fällt auf, man könnte sich schon fragen, warum. Die Antwort ist – Achtung, Wortspiel – plakativer, als man denkt. Zudem gibt sie einem ein Stück Hoffnung zurück. Mir zumindest.

Es gibt keine Wahlwerbung, die häufiger abgerissen und zerstört wird, als rechtsfaschistische und rechtskonservative Wahlplakate. Die Berliner linke Zecke kann den braunen Gedankensumpf augenscheinlich nicht ertragen, trägt aber offensichtlich nicht häufig genug eine Leiter mit sich herum.

Rechtskonservativ hängt meist direkt unter den ganzen alternativlosen Ausrufezeichen. Das passt auch politisch gut, die fühlt man ja auch grad nah beieinander. Überall sieht man diesen machtbesessenen Mr.-Burns-Verschnitt, der den Song „Schwarz zu Blau“ wie vieles andere aus dem Kontext gerissen und als Handlungsanweisung missverstanden hat.

Das Mittelfeld wird wiederum von reichen Menschen bestritten, die es geschafft haben, dem inhaltsstarken, philosophischen Konzept der Freiheit eine neue Definition zu geben. Liberal heißt bei ihnen nicht mehr, dass man der Welt offen gegenübersteht. Liberal heißt heute, dass der, der alles hat, sich auch alles erlauben können muss.

Ablenkung vom Klassenkampf

So hängen die Ich-will-Immos-und-Dollars-in-Saint-Tropez-Vertreter dieser Einzelkämpfer-Mentalität in der Mitte der Laterne. Aus dem Fenster eines SUVs gut sichtbar. Selbst im Vorbeifahren. Das Pink kratzt durch die abgetönten Scheiben auch weniger in den Augen. Manchmal aber auch in Schwarz-Weiß. Das ist nachdenklich ästhetisch – quasi Kunst. Lenkt wunderbar vom Klassenkampf ab.

Aller Liberalität zum Trotz erfährt die Wahlwerbung der angeblichen Mitte dennoch zu viel Aggression, als dass sie mit den Plakaten des Proletariats abhängen könnte. Auf Augenhöhe eines stehenden Erwachsenen hängen nur noch Zuversicht und Überzeugungen, welche Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und gleiche Chancen fordern. Linksgrünversifftes Gutmenschendenken, das offensichtlich niemandem so sehr an den Karren pisst, dass man es zerstören muss. Ist ja auch echt schon nah genug an der Hundescheiße, die unter der Laterne liegt. Strafe genug.

Die Menschen, die es stören könnte, sehen diese Plakate wahrscheinlich sowieso nicht; wer hoch hinaus will, schaut eh nur nach oben. Ist wahrscheinlich angenehm: Da sieht man dann die anderen Menschen auch nicht mehr.

Abschließend, neu erschienen: die Wanderplakate! Die könnten mal oben, mal unten hängen und lassen die pinke Mitte vor Neid darüber erblassen, dass man eine Partei wirklich, so in echt, nach sich selbst benennen kann. So was Tolles lernt man sicher nur im Russischunterricht.

Menschlichkeit wird in Berlin also vertikal skaliert. Wenn ihr demnach nicht genau wisst, wo ihr politisch steht oder wer ihr so sein wollt in unserer Gesellschaft, reicht der Blick an die Laterne. Stellt euch einfach neben die Laterne, fangt an zu singen und macht, rabimmel, rabammel, rabumm, euer Kreuzchen.

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8 Kommentare

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  • Was sehen meine trüben Augen?



    Zuerst eine unappetitliche Überschrift.



    Sodann springt mir im Aufmacher "Menschenfeindlichkeit mit unnützen Ausrufezeichen" ins Auge -



    und auf dem nichtssagenden Titelfoto zweimal "Zeit für ein Land das Heimat bleibt." und einmal "Zeit für Alice Weidel".



    Konsequent fände ich hingegen: "Zeit für die Ausbürgerung in die Schweiz".



    Nur leider findet sich hier keine Spur von Ausrufezeichen, so wie vor ein paar Tagen den Grünen eine manische Vorliebe für Doppelpunkte nachgesagt wurde: auf dem Titelbild aber groß Robert Habecks "Zuversicht" - aber nur mit einfachem Punkt dahinter.



    Ganz ehrlich, diese Härchen in der Zeichensetzungssuppe nehmen meine betrübten Augen kaum noch wahr. Viel trübsinniger macht mich auf die Dauer, dass das 'das' und das 'dass' (!) (!) von immer mehr Deutschsprachigen derart in einen (Suppen-)Topf geworfen werden, das dass (?) (!) Lesen kaum noch Appetit macht.



    Fast wie im Blick auf das Titelfoto: "Trostlosigkeit im Morgengrauen."



    Für Sehende und Lesende.

  • Dazu fällt mir dieses Plakat von 'Die Partei' aus dem Wahlkampf 2021 ein: die-partei.net/sz/...-hoeher.jpg?x56326

    In meiner kleinen Großstadt habe ich tatsächlich noch nicht ein - in Zahlen 1 - Plakat der AfD gesehen. Die scheinen sie alle in Berlin gebraucht zu haben. Bin ich froh, in der Provinz zu leben...

  • Ich habe noch kein pfiffiges Wahlplakat entdeckt.



    Die Produzent*innen a l l e r Wahlplakate beleidigen den Intellekt der Betrachtenden. Das trifft natürlich dann auch für die Auftraggeber*innen zu. Aber diese geben natürlich den Werbeagenturen die Schuld. Es ist unverzeihlich, dass für solchen Schund Geld ausgegeben wird, dass Ressourcen verschwendet werden und die Umwelt belastet wird. [/sarkasmus off]

    • @starsheep:

      Einzige Ausnahme: DIE PARTEI, da kann man zumindest noch herzhaft lachen, ansonsten schwankt es zwischen belanglos/langweilig und ärgerlich/dümmlich.



      Aber irgend einen Sinn müssen die Dinger ja haben, warum sonst hängt man sie bei jeder Wahl wieder auf?

  • Die Moral der Geschicht': auf, auf zum Baumarkt, Leitern holen?

    Die Wahl beeinflussen Plakate wohl weniger, doch hier ist es auch Territorien-Besetzen mit Putins Piastern.

  • Meine Beobachtung hier im Süden sieht aus wie folgt:



    Als vor 10 Jahren die AfD rechtskonservativ Euro-kritisch war, da wurden die ganz oben hängenden AfD Plakate oft abgerissen und nicht toleriert.



    Heute ist die AfD rechtsnational bis rechtsextremistisch und die Plakate hängen auf Augenhöhe und werden nicht mehr abgerissen, sondern toleriert!



    Scheiße das alles.

  • Die AfD hat das "!", die Grünen den ":" und das "!".



    Wer sich jetzt noch von Wahlplakaten manipulieren lässt, hat keine Ahnung von Politik.

  • Der Artikel fordert kaum verhohlen zur Sachbeschädigung auf. Auch wenn ich die Gedankenwelt der AfD nicht teile (von den Parteien noch weiter rechts ganz zu schweigen). Es handelt sich um eine legale Partei und die muss in der politischen Auseinandersetzung auch eine Stimme haben. Wer die Beschädigung/Zerstörung von Wahlplakaten dieser Parteien billigt, wird dann wohl auch keine Probleme mit Angriffen auf deren Stände und deren Wahlkämpfer haben. Wer so argumentiert, fördert die weitere Verrohung des politischen Diskurses in Deutschland!