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Wahlen auf dem Grünen ParteitagTerry Reintke ist Spitzenkandidatin

Die Grünen ziehen mit der linken Sozialpolitikerin in die Europawahl im kommenden Jahr. Lang und Nouripour sind als Parteivorsitzende wiedergewählt.

Auf dem Parteitag der grünen Europafraktion im Juni 2023: Terry Reintke zeigt sich kämpferisch Foto: Harald Tittel/dpa

Karlsruhe taz | Terry Reintke beginnt mit Simone Veil. Die Holocaust-Überlebende war in den 70er Jahren Gesundheitsministerin in Frankreich und hat zur Entkriminalisierung von Abtreibung beigetragen, später war sie Vorsitzende des Europäischen Parlaments. Veil, sagt Reintke, habe die schlimmsten Schrecken des letzten Jahrhunderts selbst erlebt, aber niemals die Hoffnung auf ein besseres Morgen aufgegeben. Und sie ruft: „Lasst uns kämpfen für ein besseres Morgen mit Mut gegen Hoffnunglosigkeit.“ Reintke bewirbt sich auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen um Platz 1 der Liste für die Europawahl im kommenden Jahr.

Reintke, 36, seit dem vergangenen Jahr Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament, ist Sozial- und Beschäftigungspolitikerin, Partei-Linke und sie stammt aus dem Ruhrgebiet. „Wir kämpfen für ein Europa, das Gerechtigkeit schützt“, sagt sie. In ihrer Bewerbungsrede spricht sie über den europäischen Mindestlohn und besseren Arbeitsschutz, über Mindeststandards bei den Beschäftigungsbedingungen und über den Green Deal.

Dann sagt sie: „Wir werden nächstes Jahr mit aller Kraft gegen einen Rechtsruck im Europäischen Parlament kämpfen müssen.“ Teile der europäischen Konservativen wollten mit Rechtsextremen zusammen Mehrheiten schaffen. Der konservativen Europäischen Volkspartei warf sie vor, sie irrlichtere und wisse nicht, „ob sie konstruktiv im Kompromiss mit anderen demokratischen Fraktionen Mehrheiten baut oder gemeinsam mit Rechtsextremen und Autoritären die Axt an den Green Deal legen will“. Da klatscht der Saal begeistert. Reintke wird mit 95 Prozent zur Spitzenkandidatin gewählt.

Nouripour und Lang wiedergewählt

Reintke ist eine der wenigen, die bei der Aufstellung der Europaliste kei­ne*n Ge­gen­kan­di­da­t*in hat. Bei der Wahl 2019 hatten die Grünen ein Rekordergebnis von 20,5 Prozent erzielt und sind seitdem mit 21 Abgeordneten im Europaparlament vertreten. Weil es nach den Umfragen für die Wahl im kommenden Jahr schlechter aussieht, gibt es auf den vorderen Listenplätzen ein ziemliches Gedrängel. Zunächst setzen sich Sergey Lagodinsky, Anna Cavazzini, Michael Bloss, Hannah Neumann und Martin Häusling durch; sie alle sitzen bereits im Europaparlament. Insgesamt wollen die Grünen 40 Listenplätze besetzen. Die erste Hälfte an diesem Freitag.

Bereits am Vormittag wählten die Grünen ihre Parteispitze wieder. Ricarda Lang verbesserte dabei ihr Ergebnis im Vergleich zur Wahl vor zwei Jahren, Omid Nouripour verlor leicht an Zustimmung. Lang, die auf dem für Frauen reservierten ersten Platz ohne Ge­gen­kan­di­da­t*in­nen antrat, erhielt 82,3 Prozent der Stimmen (2021: 76 Prozent), Nouripour setzte sich mit 79 Prozent der Stimmen (2021: 82 Prozent) gegen einen der Außenseiter-Kandidaten durch.

Lang, 29, Partei-Linke, kommt aus Baden-Württemberg und war auch schon Chefin der Grünen Jugend. Ihr Schwerpunkt ist die Sozialpolitik. Nouripour, 48, ist Realo, langjähriger Bundestagsabgeordneter aus Frankfurt am Main mit einem Fokus auf die Außenpolitik. Bei ihrer ersten Wahl hatten viele vermutet, dass Lang im Schatten des deutlich erfahreneren Nouripours stehen würde. Seitdem hat Lang eine beeindruckende Lernkurve hingelegt, inzwischen stiehlt sie mit ihren klaren, strukturierten Äußerungen Nouripour immer wieder die Show.

Nach allem, was nach außen dringt, arbeiten die beiden ohne Probleme zusammen. Man müsse nicht immer einer Meinung sein, um ein Team zu sein, sagte Lang in ihrer Bewerbungsrede. Doch die beiden sind deutlich weniger profiliert, als es ihre Vor­gän­ge­r*in­nen an der Parteispitze, Robert Habeck und Annalena Baerbock, waren. Diese ziehen – nun als Mi­nis­te­r*in­nen – auch heute deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich.

Ricarda Lang: Grüne zu technokratisch

Nouripour, der in Teheran aufgewachsen ist und im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland kam, spricht in seiner Bewerbungsrede auch die Folgen seiner politischen Arbeit für Angehörige im Iran an. Nachdem er sich im vergangenen Jahr deutlich zu dem Aufstand der Frauen im Iran geäußert habe, habe er Anrufe von Verwandten erhalten, „die mich gefragt haben, ob ich es auch leiser machen kann, weil sie aufgrund meiner Arbeit hier bedroht worden sind“. Nouripour fügt hinzu: „Und nicht alle haben das überlebt.“

Lang betonte, dass sie auch Verbesserungsbedarf bei der strategischen Aufstellung der Partei sehe. Manchmal seien die Grünen zu technokratisch, so Lang: „Wir müssen den Menschen zugewandt bleiben“. Zudem müsse die soziale Frage am Anfang stehen, auch brauche es ein „neues Gerechtigkeitsversprechen für die gesellschaftliche Mitte“. Und drittens dürften die Grünen nicht in die Nische zurück.

Als Bundesgeschäftsführerin wurde Emily Büning mit 83,3 Prozent der Stimmen in ihrem Amt bestätigt, auch sie schnitt schlechter ab als bei ihrer ersten Wahl vor zwei Jahren. Neuer Bundesschatzmeister der Grünen ist Frederic Carpenter. Als stellvertretende Bundesvorsitzende wurden der Thüringer Heiko Knopf sowie Pegah Edalatian aus Nordrhein-Westfalen wiedergewählt.

Am Samstag werden auf dem Parteitag weitere Listenplätze für das Europäische Parlament vergeben, das Europawahlprogramm debattiert und der Parteirat neu gewählt. Habeck und Baerbock, aber auch die beiden Fraktionschefinnen, Katharina Dröge und Britta Hasselmann, wollen nicht wieder für das Gremium kandidieren. Das dürfte an der Arbeitsbelastung liegen, hat aber den Nebeneffekt, dass sie sich keiner Abstimmung stellen müssen. Der Parteirat berät den Bundesvorstand der Grünen und koordiniert die Arbeit zwischen den Gremien der Bundespartei, den Fraktionen und den Landesverbänden.

Am Abend steht dann die Migrations- und Asylpolitik auf der Tagesordnung – die Debatte mit dem wohl größten Konfliktpotential auf dem ganzen Parteitag.

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13 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • "Am Abend steht dann die Migrations- und Asylpolitik auf der Tagesordnung"

    Umweltschutz. soziale Gerechtigkeit und global Friedenspolitik sind wichtig. Leider haben sich SPD und Grüne trotz vieler Warnungen auf einen Weg in die politische Bedeutungslosigkeit begeben. Das tägliche Leben der Menschen aus einfachen Familien sieht eben etwas anders aus.

  • Ich meinte das in einem übergeordneten Zusammenhang, Sie und so wie ich den Artikel im Ausschnitt interpretieren musste auch Frau Reintke denken eher in der Ebene darunter.



    Von einer europäischen Spitzenpolitikerin erwarte ich mehr an Aussage als das Zitierte. Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb. Wir brauchen Technologin mit weniger Rohstoffabhängigkrit, IT Leaderschaft, attraktive Standortbedingungen, Firmengründungen fördern und erleichtern, usw. Wenn das gegeben ist, dann geht's mit den anderen Themen einfacher.



    In unserer Situation Arbeitsschutz und Mindeststandards nach vorne zu tragen und dann viel Applaus bekommen... und Habeck und Scholz jetten um die Welt für Energie aus Katar und Nigeria..., die Vorreiter zum Thema Arbeitsschutz(!?), klar!



    Jeder halbwegs klare Wähler sieht doch die Widersprüche! Grüne Delegierte klatschen also zum falsch priorisierten Thema. Gut für Grüne-Fans, die anderen wählen garantiert was anderes.

  • Bei den Grünen kennt man Dr. Phillip Schmagold schon lange. Außenseiter ist wohl gerade deshalb. Er gehört zu jenen, die fleißig Änderungsanträge stellen und in der Antragskommission diskutieren.



    www.kn-online.de/l...U3DTEMQQPDORI.html

  • mit dieser Wahl entfernen die Grünen sich nun endgültig von der Mehrheitsmeinung

    • @Andere Meinung:

      Richtig! Grün muss sich Gedanken machen eine erweiterte Wählerschaft anzusprechen und die eigenen Wähler nicht zu verlieren. Hier passiert genau das Gegenteil: Eigene Wählerschaft beruhigen und die anderen müssen bloß kapieren, dass wir das richtig machen.

  • Sozialpolitiketin, 'in ihrer Bewerbungsrede spricht sie über den europäischen Mindestlohn und besseren Arbeitsschutz, über Mindeststandards bei den Beschäftigungsbedingungen...'.



    Nur mal den ollen Billy zitiert: It's the economy, stupid!



    Schüsse nicht gehört wie mir scheint. Man kann es seinen politischen Gegnern wohl nicht leicht genug machen.

    • @Tom Farmer:

      "...den europäischen Mindestlohn und besseren Arbeitsschutz, über Mindeststandards bei den Beschäftigungsbedingungen..."

      Klingt das wirklich so furchtbar?

    • @Tom Farmer:

      "Nur mal den ollen Billy zitiert: It's the economy, stupid!"

      In Billyland kriegen die Autoarbeiter bei VW nun 11% mehr Lohn, und stehen damit branchenintern sehr schlecht da.

      In Deutschland kriegen die Autoarbeiter bei VW nun 5,2% und später noch mal 3,3% mehr Lohn, und stehen damit branchenintern sehr gut da.

      Clinton - und auch Biden - verstehen, dass eine Massenproduktions- und Dienstleistungsgesellschaft, die sich nicht in einem (neo)kolonialen Abhängigkeitsverhältnis befindet, ökonomisch primär vom Binnenkonsum getragen wird - und dass, solange dieser Binnenkonsum robust ist, das Überschuldungsrisiko, das Inflationsrisiko usw gering bleibt.



      In Deutschland glaubt die Masse der Bevölkerung - und die überwältigende Mehrheit der Politik rechts von den Grünen - weiterhin an das Märchen, dass man auf alle Ewigkeit "dem Chinesen" Glasperlen verticken kann, die in China kaum mehr jemand braucht und auch gar nicht mehr will, weil die chinesische Glasperlenindustrie mittlerweile den Endverbraucherpreis der Importware locker unterbieten kann.

      Eine auf Außenhandel gestützte Volkswirtschaft ist entweder die eines Kolonialherren[*], oder sie wird zunehmend strukturell rückständig, und/oder sie ist zum Scheitern verurteilt:



      Wir kriegen unsere Überproduktion nicht mehr abverkauft, und reduzieren unsere Binnenkaufkraft weiter. Aus dieser Sackgasse kommt man auch mit Schumpeter nicht mehr raus.



      Wer ist also der "stupid" hier?

      [*] Die Niederlande haben Mitte des letzten Jahrhunderts eine beeindruckende Transformation von einer Kolonial- zu einer Binnenökonomie hingelegt, indem sie die von den Nazis angerichteten Zerstörungen kreativ genutzt haben, statt einfach nur die alte Kolonialökonomie wiederaufzubauen: ab 1948 war ja klar, dass der Export nach Übersee nicht mehr die verlässliche Stütze der niederländischen Volkswirtschaft sein konnte, die er die vergangenen 450 Jahre war.

      Deutschland hatte seine Chance in den frühen 1990ern, aber da hatten wir Neoliberale an der Macht.

  • "Doch die beiden sind deutlich weniger profiliert, als es ihre Vor­gän­ge­r*in­nen an der Parteispitze, Robert Habeck und Annalena Baerbock, waren. Diese ziehen – nun als Mi­nis­te­r*in­nen – auch heute deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich." - Das is ja nu kein Wunder, jetz sitzt GRÜN schließlich in der Regierung !

  • ... nach Europa schickste die linken Grüns, im Bundeskabinett sitzense, gefühlt, am Katzentisch. War zuvor in IRGENDEINER Regierung in Bund oder Land eine Grüne U m w e l t ministerin (w/m/d) je sooo unsichtbar ???

    • @lesnmachtdumm:

      Die Prioritäten werden halt gerade anders gesetzt. Die ehemalige Friedens- und Umwelt Partei hat sich sehr geändert.

    • @lesnmachtdumm:

      Was ist mit Thekla Walker und Priska Hinz?