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Wahl von Ver­fas­sungs­rich­te­r*in­nenGegen die Wand

Die Wahl der Rich­te­r:in­nen zum Bundesverfassungsgericht scheitert vorerst. Die Chronologie eines politischen Versagens.

Die Drei von der Regierungsbank auf der niemand zufrieden oder in Kontrolle von irgendetwas ist Foto: Michael Kappeler/dpa

Die Wahl der Rich­te­r:in­nen zum Bundesverfassungsgericht ist normalerweise kein Termin, der Gemüter in Wallung versetzt. Ein Thema, das die Justiziare beschäftigt. Die Hälfte der 16 Rich­te­r:in­nen wird im Bundestag gewählt, die andere Hälfte im Bundesrat. Erforderlich ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit.

Dass es am Freitag anders läuft, ahnt man bereits vor der entscheidenden Sitzung. Vor dem Reichstagsgebäude demonstrieren Lebensschütze­r:innen, halten Plakate von Föten im Mutterleib hoch. Statt ‚business as usual‘ ist Kulturkampf angesagt.

Denn gegen eine der drei Kan­di­da­t:in­nen, die Potsdamer Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf, machen rechte Netzwerke und Le­bens­schüt­ze­r:in­nen seit gut zwei Wochen mobil. Die Juristin war Mitglied einer Ex­per­t:in­nen­kom­mis­si­on zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hält dies teilweise für geboten. So wie 80 Prozent der Bevölkerung.

Als die SPD der Union Brosius-Gersdorf und eine zweite Kandidatin, Ann-Katrin Kaufhold, vor zweieinhalb Monaten vorschlug, stimmte die Union zu. Die Union hatte ihrerseits einen eigenen Kandidaten, Günter Spinner, nominiert. Alle drei sollten zusammen gewählt werden. So war es mit der SPD besprochen.

Kulturkampf, Plagiatsvorwürfe, Morddrohungen

Aber dann läuft die Kampagne an. In sozialen Medien wird behauptet, Brosius-Gersdorf wolle Babys im Mutterleib zerstückeln, sie erhält Morddrohungen. Am Freitagmorgen tauchen dann auch noch Plagiatsvorwürfe auf. Demnach habe Brosius-Gersdorf in ihrer Doktorarbeit an 23 Stellen bei der Habilitation ihres Mannes abgeschrieben. Die Vorwürfe wirken schon deshalb konstruiert, weil ihre Doktorarbeit ein Jahr vor der Habilitation ihres Mannes erschien. Die Plagiatsvorwürfe werden wenige Stunden später wieder zurückgezogen.

Statt ‚business as usual‘ ist Kulturkampf angesagt.

Aber: Die Kampagne wirkt. Immer mehr Unionsabgeordnete melden Bedenken und Redebedarf bei Fraktionschef Jens Spahn an. Er wirbt bis zuletzt für den Vorschlag der Koalition, schafft es aber nicht, die eigene Fraktion zusammenzuhalten. Obwohl der 12-köpfige, vertraulich tagende Wahlausschuss am Montag mit Zweidrittelmehrheit die Kan­di­da­t:in­nen vorgeschlagen hatte, obwohl Merz sich am Mittwoch in der Regierungsbefragung auch persönlich hinter Brosius-Gersdorf gestellt hatte.

Am Freitagmorgen trifft sich die Union um 8 Uhr zur Sondersitzung. Merz und Spahn fällen eine Entscheidung: Sie wollen der SPD vorschlagen, nur zwei Rich­te­r:in­nen zu wählen und die Wahl von Brosius-Gersdorf zu vertagen. Man informiert SPD-Fraktionschef Matthias Miersch und Parteichef Lars Klingbeil. Die Bundestagssitzung wird kurz darauf unterbrochen, die SPD ist empört. Sie trifft sich ihrerseits um 10.30 Uhr. Die Entscheidung fällt schnell und einmütig: Die Wahl aller drei Ka­ndi­da­t:in­nen wird von der Tagesordnung abgesetzt, nur so lässt sich ein Koalitionscrash in letzter Minute abwenden.

Führungsversagen von Spahn und Merz

In der SPD ist man sauer. Sieht ein Führungsversagen von Spahn und Merz. „Wir werden gerade Zeuge, wie eine hochqualifizierte Kandidatin mit makellosem Werdegang und breiter fachlicher Anerkennung Opfer einer Schmutzkampagne wird, die haltlos ist“, erklärt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Dirk Wiese. „Das Problem heute ist, dass die Unionsführung die nötige Mehrheit in ihren eigenen Reihen nicht sicherstellen konnte.“

Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann wird grundsätzlicher: „Dieser Tag ist ein absolutes Desaster für das Parlament, für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht“, sagt sie im Bundestag. In der Verantwortung dafür sieht sie Friedrich Merz, vor allem aber den Unionsfraktionsvorsitzenden Spahn. Er habe es nicht geschafft, in seiner Fraktion die Mehrheiten für die gemeinsamen Rich­ter­kan­di­da­t*in­nen zu organisieren. So sieht es auch die Fraktionsvorsitzende der Linken, Heidi Reichinnek: „Die Absetzung der Wahlen ist ein absolutes Armutszeugnis für Sie, Herr Spahn.“

Frust sitzt tief

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, übernimmt die Deutungshoheit anstelle von Spahn, der sonst kein Mikrofon auslässt. „Wir wären bereit gewesen, die beiden anderen Kandidaten zu wählen.“ Doch eine Verständigung sei an diesem Tag nicht mehr möglich gewesen, deshalb habe auch die Union die Streichung des Tagesordnungspunkts beantragt. Es ist der Versuch, die Kontrolle ein wenig zurückzugewinnen und der SPD eine Teilschuld zuzuschieben.

Doch dort sitzt der Frust tief. Man werde an Brosius-Gersdorf festhalten, heißt es am Freitag. Wann und ob sie gewählt wird, ist unklar. Möglicherweise nach der Sommerpause, vielleicht auch nie.

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9 Kommentare

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  • Wenn ich das Titelbild dieses Artikels anschaue fällt mir ein altes Kinderlied wieder ein:

    de.wikipedia.org/w...mit_dem_Kontrabass

    Und genauso verständlich wie dieses Lied ist die Politik dieser, dieser ... nennen wir es ruhig "Regierung" ...

  • Gut, dass die SPD diese Kandidatin vorgeschlagen hat. Nach den Maskenmilliarden nun Unfähigkeit auch hier: Spahn muss zurücktreten.

    • @Stigghiularu:

      Ja. Spahn muss zurücktreten.

  • Danke für diese klaren Worte!



    Es ist auch schön, dass der Artikel ganz ohne Schuldzuweisungen an die SPD auskommt.



    Jeder verantwortungsvolle Politiker würde spätestens nach zwei Skandalen zurück treten.



    Für Spahn scheint das nicht zu gelten.



    Nun wird sich zeigen, ob Merz neben dummen Sprüchen und Fettnäpfchen treten auch noch Anders kann.



    Er hätte nun die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.



    Das Abstimmungsdesaster relativieren und Spahn für sein Maskenversagen abzustrafen.



    Dann würde die geschwächte Regierung mit fast weißer Weste herauskommen.



    Ob Merz dafür aber Rückhalt und Rückgrat besitzt, bleibt zweifelhaft.

  • Erst läßt sich die SPD von Lindners FDP vorführen, jetzt von Spahns CDU. Für einen SPD -Wähler wird es schwer, seine Partei noch ernst zu nehmen.

    • @Dr.med. Heinz de Moll:

      Nicht erst seit heute.



      Schon die Geschichte mit der Glyphosat-Zulassung durch CsU-Schmidt hat gezeigt, dass die SPD kein Rückgrat hat. Und hundert weitere Gelegenhueten



      Auch jetzt wird die SPD wieder klein beigeben.



      Und die Begründung wird wieder sein: Aus staatspolitischer Verantwortung.



      Dabei machen sie es nur wegen der Posten.



      ERREICHEN TUN SIE NICHTS.



      Nicht einmal den 15€ Mindeslohn Oder eine Stromsteuersenkung für Privathaushalte.

      • @EchteDemokratieWäreSoSchön:

        Dem schließe ich mich an. Die SPD hatte noch nie Rückgrat. Lächerlich, dass sie nach dem Ampel-Debakel und mit ihren Prozenten überhaupt noch mitregieren dürfen.

  • Die Werte Frau Brosius-Gersdorf ist nach meiner Meinung selbst für liberal konservative Personen wählbar. Dies begründet sich für mich zu aller erst in ihrer Grundeinstellung zum Lebensbeginn und somit zur grundsätzlichen Einstellung der "Abtreibung".



    Wann genau Das Leben im Mutterleib beginnt ist umstritten, allerdings ist die Auffassung, das dies erst ab Tag der Geburt erfolgt maximalst abzulehnen.



    Es wird hier immer geschrieben, sie wäre eine liberale Verfassungsrichterkandidatin, das ist hinsichtlich ihrer Publikationen und Meinungen in kleinster Weise gegeben. Impfpflicht ist nicht liberal.

    Wir bzw ich haben seit Wochen mehrfach die Bundestagsabgeordneten der CDU\CSU auf dieses Thema sensibilisiert und an die Unabhängigkeit Ihrer Entscheidung appelliert hier ein Zeichen zu setzen.



    Gott sei Dank hat das ersteinmal geklappt.

  • trumpesk.



    Bild-Propaganda am Limit.



    Es wird noch schlimmer.