Wahl in der Türkei: Das Erdoğan-Paradox
In Konya haben fast 70 Prozent im ersten Wahlgang für Erdoğan gestimmt. Dabei kritisieren die Menschen in der Stadt die Regierung. Passt das zusammen?
Es ist das Paradox, über das sich die türkische Opposition seit dem ersten Wahlgang vor einer Woche den Kopf zerbricht. Die Probleme im Land liegen auf der Hand, doch die Allianz um den kemalistischen Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu dringt mit ihren Versprechen um Stabilität und Rechtsstaatlichkeit nicht bei der Mehrheit durch. Der aussichtsreichste Oppositionskandidat, den die Türkei im Rennen gegen Erdoğan in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat, ist entgegen vieler Prognosen im ersten Wahlgang vorerst gescheitert.
Osman, der seinen vollen Namen nicht nennen will, diskutiert im Schatten eines Hochhauses in Konya mit drei Unternehmer-Freunden über die Wahlen. Die Stadt mit 1,3 Millionen Einwohner*innen liegt etwa 250 Kilometer südlich von Ankara und ist einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte der Türkei. Fast 70 Prozent der Menschen haben hier bei der Präsidentschaftswahl für Erdoğan gestimmt. Das ist umso eigenartiger, wenn man erfährt, dass die Unternehmer*innen hier die Wirtschaftspolitik der türkischen Administration kritisieren. „Diese Regierung hat eine kannibalische Seite“, sagt Osman.
Weil keiner der beiden Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht hat, stehen kommende Woche Stichwahlen bei den Präsidentschaftswahlen an. Die Opposition bereitete sich Anfang der Woche nur zögerlich darauf vor. Jetzt betont Ekrem Imamoğlu, CHP-Bürgermeister von Istanbul und beliebter Stellvertreter von Kılıçdaroğlu: „Es steht null zu null in der Halbzeitpause.“
Null zu Null zur Halbzeit
Wenn diese Analogie zutrifft, dann müsste man für die zweite Runde zumindest von einem Heimspiel-Vorteil für Erdoğan ausgehen. Er hat mit seinem Wahlbündnis auch die Parlamentswahlen mit 49,5 Prozent gewonnen. Das Bündnis von Kılıçdaroğlu erhielt hier lediglich 35 Prozent. Damit würden Erdoğan und seine Leute wohl nicht nur in einer religiösen Stadt wie Konya in der kommenden Legislatur den Ton angeben.
Doch wer sich eine AKP-Hochburg wie Konya als triste Einöde voller religiöser Hinterwäldler*innen vorstellt, irrt. Hier fahren Straßenbahnen, es gibt Fahrrad-Abstellplätze und zahlreiche Parks. Der Bürgermeister von der AKP, Uğur İbrahim Altay, wirbt im Stadtzentrum mit fast 100 neu angeschafften Stadtbussen, dutzenden verbesserten Straßenkreuzungen und Hilfen für die Landwirtschaft in Millionenhöhe.
„So lange sich die türkische Wirtschaft nicht wieder in den Weltmarkt integriert, werden wir weiter Schwierigkeiten haben“, sagt der Unternehmer Ramazan Güven. Er ist einer der Männer, mit denen Osman in Konya diskutiert. Güven ist in der Textilindustrie tätig und sagt, er beschäftige in Adana 65 Menschen in einer Näherei, wo er Hosen produziere.
Während er als Großhändler vergangenes Jahr eine Hose für 85 Lira verkauft habe, koste diese nun 220 Lira. Deshalb verfolgen die Männer die Devisenkurse mit ähnlich großem Interesse wie die Wahlen. Zuletzt hat sich das Verhältnis der Lira zum Euro bei etwa 20:1 eingependelt. Noch 2017 kostete ein Euro in der Türkei etwa 4 Lira. „Früher haben die Menschen hier von einem Haus oder einem eigenen Auto geträumt, doch diese Träume wurden uns genommen“, sagt Güven.
Wegen des mangelnden Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit des Landes haben internationale Investoren in den vergangenen Jahren ihr Kapital aus der Türkei stark abgezogen. Erdoğan versucht, mit schuldenfinanzierten Ausgaben die Wirtschaft des Landes auf Trab zu halten. Gleichzeitig übt er Druck auf die Zentralbank aus, den Leitzins niedrig zu halten, damit Unternehmen günstige Kredite aufnehmen können.
Die Lira verliert massiv an Wert und die Menschen klagen über gestiegene Lebensmittelpreise. Dass sich die Menschen wegen der sinkenden Reallöhne aber längst auch keine Wohnungen mehr leisten können, die am Rande von Städten wie Ankara in riesigen Hochhaussiedlungen entstehen, sollte Erdoğan den Schlaf rauben.
Wen er gewählt hat, will der Textilunternehmer Güven nicht verraten. Doch von der Opposition halten die Männer, die sich in Konya unterhalten, nicht viel. „Kılıçdaroğlu ist viel zu passiv“, sagt Osman.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es hat fast zwei Tage gedauert, bis das Oppositionsbündnis Worte für die Wahlschlappe von vergangener Woche gefunden hat. Als sich Kılıçdaroğlu dann am Mittwoch in einem Video bei Twitter zu Wort meldete, waren einige wegen seiner Wortwahl überrascht: „Wir werden unsere Heimat nicht denen überlassen, die nicht in der Lage sind, die unkontrollierte Flut von Menschen, die in unsere Adern eindringt, zu stoppen.“ Schon vorher hatte Kılıçdaroğlu auf Kosten der Geflüchteten in der Türkei Wahlkampf betrieben. Sein Ton ist jetzt jedoch noch deutlich nationalistischer.
Kemal Kılıçdaroğlu ist der Präsidentschaftskandidat eines Sechs-Parteien-Bündnisses, darunter auch der rechten İYİ Parti. Die Allianz war überzeugt, den ersten Wahlgang zu gewinnen, Umfrageinstitute hatten sogar eine absolute Mehrheit für Kılıçdaroğlu prognostiziert, womit es gar nicht zur zweiten Runde gekommen wäre.
Doch das Gegenteil trat ein: Kılıçdaroğlu liegt mit 44,9 Prozent deutlich hinter Erdoğan, der mit 49,5 Prozent nur knapp den Wahlsieg verpasste. Die Stichwahlen am 28. Mai sind damit die vorerst letzte Hoffnung der Opposition, die Türkei vor fünf weiteren Jahren AKP-Herrschaft zu bewahren.
Nun bemüht sich Kılıçdaroğlu um die Stimmen am rechten Rand und versucht, mit dem Kandidaten, der bei den Stichwahlen nicht mehr antritt, einen Pakt zu schmieden. Sinan Oğan ist ein Nationalist und erhielt aus einer Außenseiterposition 5,2 Prozent. Auf diesen Stimmanteil hat es die Opposition nun abgesehen und hat für den zweiten Wahlgang Umstellungen in ihrer Kampagne vorgenommen.
Die Videos von Kılıçdaroğlu, in denen er sich aus seiner heimischen Küche zu Wort meldete, scheinen erst einmal vorbei. Die Jugend des Landes feierte diese Beiträge zwar als erfrischenden Kontrapunkt zu Erdoğans Herrscher-Gebaren, doch auch bei der CHP weiß man: Bei Twitter sind keine Wahlen zu gewinnen.
In Konya befindet sich das CHP-Büro unweit des Hochhauses der Bera-Holding, unter dem Osman und Ramazan Güven sitzen. Eine Handvoll Parteimitglieder organisiert aus der hiesigen Parteizentrale die Kampagne für die zweite Runde der Wahlen in der Region.
In der Provinz Konya erhielt Kılıçdaroğlu mit 24 Prozent der Stimmen nur fast halb so viel wie im Landesdurchschnitt. Das schlechte Abschneiden ist keine große Überraschung in der konservativen Provinz, vielmehr besteht der Parteivorsitzende in Konya, Bekir Yaman, darauf, dass die AKP hier im Vergleich zu den vorherigen Wahlen schlechter abgeschnitten hat.
Er macht die Medien für das Ergebnis verantwortlich. „Unsere Lösungsvorschläge für die wirtschaftlichen Probleme vor Ort finden kaum Gehör. Und die Leute hier, vor allem in den Dörfern, beziehen ihre Informationen von regierungsnahen Sendern wie TRT.“
Ramazan Güven, Unternehmer
Kaum Gehör für Opposition
Die Wahlbeobachter*innen-Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) berichtete Anfang der Woche in ihrem Report zu den Türkeiwahlen von einer „klaren Favorisierung der Kampagnen der amtierenden Regierung“ in den Medien des Landes.
Zwar seien es „gut organisierte“ Wahlen gewesen mit Vertrauen der Menschen in den Wahlgang, den „Rechtsrahmen, der keine vollständige Grundlage für die Abhaltung demokratischer Wahlen biete“ kritisierte die OSZE jedoch. Hier nannte sie insbesondere Einschränkungen der Meinungsfreiheit und die Festnahme von Oppositionspolitiker*innen.
Unterdessen versucht auch die Opposition den Berichten über die Entwendung von Stimmen in mehreren Wahlbüros im Land zu begegnen. „Was die Sicherheit an den Wahlurnen betrifft, waren wir diesmal viel erfolgreicher als zuvor“, sagte die Vorsitzende der Istanbuler CHP, Canan Kaftancıoğlu, am Donnerstag. Die Opposition befürchtet, dass die Angst vor dem Stimmenklau Menschen davon abhalten könnte, zur Wahl zu gehen. „In dieser Angelegenheit sollen unsere Bürgerinnen und Bürger unbesorgt sein.“
Osman und Ramazan Güven sagen in Konya, sie gehen von einem Sieg Erdoğans in der zweiten Runde aus. „Wir wählen mit der gleichen Einstellung, wie wir eine Fußballmannschaft unterstützen“, sagt Ramazan Güven. Da würden die Fehler einer Partei schnell mal übersehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste