Wagenknecht-Ansprache in Wettbergen: Sahra geht in Frieden
Große Politik in einer kleinen Kirche: Ein Neujahrsgottesdienst mit Sahra Wagenknecht regt viele auf. Dabei erzählt sie nur, was sie immer sagt.
Die Folge: Viel Gekabbel um die rund 300 Sitzplätze in der Kirche und dem benachbartem Gemeindesaal, ein solider Shitstorm, großes Medieninteresse, ein genervter Kirchenkreis und 25 wütende Demonstranten auf dem Vorplatz, die Plakate hochhielten, auf denen zum Beispiel stand: „Putin-Propaganda – Pastor Harms lädt ein“.
Nun ist Pastor Friedhelm Harms einer, der gern einmal durchblicken lässt, wie sehr er unter dem wachsenden Bedeutungsverlust seiner Kirche leidet. Aber diese Art von Aufmerksamkeit wurde ihm dann doch ein bisschen zu viel.
Die Tradition, sich zu den Neujahrsgottesdiensten möglichst Prominente und öfter auch umstrittene Redner einzuladen, hat er von seinem Vorgänger geerbt. Gerd Schröder, Christian Wulff und Gergor Gysi waren schon hier, und auch der Sohn des von der RAF ermordeten Generalstaatsanwalts Siegfried Buback sowie der Nahost-Experte und Islamkritiker Ahmad Mansour.
Bekanntes, garniert mit Bibelzitaten
An Wagenknecht, sagt er, habe ihn vor allem ihre Position zum Krieg in der Ukraine interessiert. Als er sie im vergangenen Herbst einlud, war aber natürlich noch nicht absehbar, dass diese Neujahrsansprache kurz nach der Gründung ihrer eigenen Partei stattfinden würde.
Was die bekennende Atheistin Wagenknecht dazu bewogen haben mag, die Einladung anzunehmen, bleibt unklar. „Etwas sehr Besonderes“ sei das, sagt sie in ihrer Rede. Die befasst sich mit zwei Aspekten: einerseits dem Russland-Ukraine-Krieg und andrerseits mit dem, was sie als wachsende gesellschaftliche Spaltung beschreibt.
Wagenknecht sagt dabei nichts, was man sie nicht schon hunderte Male in Talkshows und Reden hätte sagen hören, aber sie sagt es ein bisschen sanfter, milder, pastoraler und macht sich die Mühe, die Bibel, Margot Kässmann und den Papst zu zitieren, wo sie normalerweise Philosophen und politische Denker heranzieht.
Sie plädiert also einmal mehr für sofortige Friedensverhandlungen mit Russland, beklagt den sich verengenden Meinungskorridor und dass die wahren sozialen Probleme im Land nicht adressiert würden, weil man sich lieber damit beschäftige, auf Bürgergeldempfängern herum zu hacken.
Krieg, Frieden und der Meinungskorridor
Dafür bekam sie schon beim Einzug in die Kirche Applaus und auch die kleine Fragerunde im Gemeindehaus im Anschluss an den Gottesdienst ist von großem Wohlwollen geprägt.
Die einzigen kritischen Fragen beziehen sich darauf, ob der Parteiname nicht doch ein bisschen weniger egozentrisch hätte ausfallen können. Das habe ganz praktische Gründe, sagt Wagenknecht und der Name müsse ja auch nicht immer so bleiben.
Es ist offensichtlich, dass auch viele Gemeindemitglieder von Friedensfragen umgetrieben werden, vom Unbehagen an den Waffenlieferungen, der Dauer, den Kosten und dem Eskalationspotential dieses Krieges.
Deshalb hören sie es gern, wenn Wagenknecht zum wiederholten Mal behauptet, der Frieden wäre bei den Istanbul-Verhandlungen im Frühjahr 2022 praktisch schon zum Greifen nah gewesen, Russland zum Rückzug bereit, die Ukraine hätte lediglich ihre Neutralität erklären müssen.
Es gäbe an dieser Stelle eine Menge einzuwenden: Es gab bedeutende Verhandlungsteilnehmer, die das ganz anders eingeschätzt haben, den ungeklärte Status von Donbas und Krim, das Ringen um Sicherheitsgarantien für die Ukraine auf westlicher Seite, den fortgesetzte Beschuss Mariupols, das Massaker von Butscha.
Wagenknecht trifft einen Nerv
Aber wer hat schon noch all diese Details parat, wer möchte sich überhaupt damit befassen mit diesem zähen Ringen und ewigen Vor und Zurück in den Verhandlungen. Im Gemeindesaal der Johannes-der-Täufer-Kirche offensichtlich niemand.
Stattdessen bekommt Wagenknecht noch einmal die Frage: „Kann man mit Putin nicht reden?“, damit sie noch einmal wiederholen kann, was sie schon in ihrer Rede gesagt hat: Doch, klar, man muss es einfach nur mal tun. In ihren Augen ist es ja ausschließlich der Westen, der einseitig auf militärische Lösungen setzt und Diplomatie verweigert.
Und zwar, weil man entweder das neue Waffenversuchsfeld nicht aufgeben möchte oder weil man sich von Wut- und Rachegefühlen und einer „abstrakten Moral“ leiten lässt. Sie plädiert dagegen nicht nur für mehr Diplomatie, sondern auch mehr Sachlichkeit. So einfach ist die Welt, wenn Dr. Sahra Wagenknecht sie erklärt.
Nur eine junge Frau fragt kritisch nach, ob man das denn Diplomatie und okay nennen könne, wenn Russland die Ukraine erpresst, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten. Aber auch das pariert die talkshow-gestählte Sahra Wagenknecht natürlich schnell. Sie wolle sich Russlands Ziele ja nicht zu eigen machen und natürlich sei der Krieg ein Verbrechen, aber man hätte die russischen Sicherheitsinteressen eben berücksichtigen müssen.
Zum ersten Mal Minderheit
Und es gibt ein weiteres Themenfeld, bei dem die Rednerin offensichtlich einen Nerv trifft. Das sind die Klagen über den enger werdenden Meinungskorridor, die Dinge, die man nicht mehr sagen dürfe, den unsäglichen Ton in vielen Auseinandersetzungen.
Es wird oft darauf hingewiesen, was für ein Widerspruch das ist, wenn solche Klagen ausgerechnet von einer Person kommen, die in Talkshows und im Parlament sitzt, Marktplätze und Veranstaltungssäle (sogar von Kirchen) füllt und tausende Bücher verkauft.
Aber dieser offensichtliche Widerspruch verfängt auch hier, bei diesem Publikum in Wettbergen, nicht so richtig. Möglicherweise, weil es eigentlich um etwas anderes geht. Möglicherweise geht es gar nicht darum, dass Dinge, die man sagt, tatsächlich üble Konsequenzen haben.
Sondern eher darum, dass man zum ersten Mal im Leben die Erfahrung macht, eine Minderheitenmeinung zu vertreten und auf heftigen Widerspruch zu stoßen. „Frau Wagenknecht, Sie haben ja täglich mit Gegenwind zu tun. Woher nehmen Sie die Kraft?“, fragt ein älterer Herr. Aus dem großen Zuspruch, den sie ja auch täglich erfahre, antwortet Sahra Wagenknecht freundlich.
Und dann ist die Sprechstunde auch fast schon zu Ende. Die Politikerin muss dringend zum Zug, schafft es kaum noch alle Selfie- und Signierwünsche zu bedienen. Draußen sind die wütenden Demonstranten längst verschwunden. Niemand buht mehr.
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