Wälder werden Netto-CO2-Produzenten: Finnlands wackliger Wunschtraum
Das Land will auch in der Klimaneutralität viel CO2 ausstoßen und durch kohlenstoffbindende Natur ausgleichen. Doch die spielt nicht mit.
Auf dem Blatt haben die KlimaaktivistInnen in Finnland zumindest weniger zu beklagen als in vielen anderen Industrieländern: Die 5-Parteien-Regierung der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Sanna Marin will das Land zur „ersten fossilfreien Wohlfahrtsgesellschaft der Welt“ machen, wie sie 2019 in ihrem Programm festhielt. Im Mai hat der Reichstag in Helsinki diese Verpflichtung mit großer Mehrheit in Form eines neuen Klimagesetzes festgeschrieben. Darin steht: Bis 2035 will Finnland klimaneutral sein, also höchstens noch so viel Treibhausgas ausstoßen, wie der Atmosphäre auch wieder entzogen wird. Warum also die Proteste?
WissenschaftlerInnen warnen bereits, dass das Klimaziel grandios verfehlt werden könnte – wegen des Zustands des finnischen Walds. Mit „Fossilfreiheit“ haben die finnischen Pläne zur Klimaneutralität nämlich nicht viel zu tun. Fast die Hälfte der nötigen Minderung von Treibhausgas-Emissionen will das Land gar nicht dadurch erreichen, dass es tatsächlich Treibhausgas-Emissionen mindert. Stattdessen will es sich die ökologische Leistung seines Walds und seiner Böden gegenrechnen, denn gesunde Ökosysteme binden Kohlenstoff. Auch Deutschland handhabt das seit der Reform des Klimaschutzgesetzes im vergangenen Jahr so – allerdings nicht in ganz so großem Stil.
Rund 50 Millionen Tonnen Kohlendioxid verursacht Finnland zurzeit im Jahr. 21 Millionen Tonnen davon sollen auch 2035 weiter ausgestoßen, aber von den Wäldern aufgesogen werden. Bis 2040 will das Land dann sogar CO2-negativ sein: Die Senken sollen mehr „schlucken“, als es Treibhausgas-Emissionen gibt. Finnland ist bekanntlich ein waldreiches Land. Drei Viertel der Landfläche südlich des Polarkreises sind bewaldet. Der Klimaplan steht und fällt also mit dem Zustand dieser Flächen.
Mehrfach übernutzt
Und der ist katastrophal: Im vergangenen Jahr trug die finnische Natur gar nicht mehr zu einer Entlastung der Klimabilanz bei, sondern war sogar eine zusätzliche Quelle von Kohlendioxid. Das haben kürzlich Zahlen des staatlichen Statistikamts zum Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft gezeigt. Der trug unter dem Strich mit zusätzlichen 2,1 Millionen Tonnen Kohlendioxid zum Treibhausgasausstoß bei. Diese Umkehr der natürlichen Klimaschutzwirkung geschieht, wenn zu viel abgeholzt wird, wenn der Wald nicht mehr ausreichend nachwachsen kann. Neben dem gesteigerten Holzeinschlag sind auch die fortgesetzte Trockenlegung von Mooren und die Torfverbrennung ursächlich.
Was womöglich zusätzlich beunruhigend ist: Man hat diesmal zum ersten Mal eine verbesserte Methode eingesetzt, die die Klimabilanz der Natur genauer erfassen kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Werte in der Vergangenheit schöngerechnet waren, die Entwicklung also schon fortgeschritten ist.
ExpertInnen sind deshalb in Sorge: Wenn schon in einem der waldreichsten Länder Europas der Wald von einer CO2-Senke zu einer -Quelle geworden ist, müsse das auch in anderen Ländern alarmieren, meint David Erlandsson von der schwedischen Naturschutzvereinigung SSNC. Es gebe eigentlich nur eine Konsequenz: Das Abholzungstempo müsse radikal zurückgefahren werden.
Kalkulation für die Katz
In den kommenden Monaten soll laut Tarja Tuomainen vom finnischen Institut für Naturressourcen versucht werden, die Senken-Werte für die Vergangenheit auf der Grundlage der neuen Methoden retrospektiv vergleichbar zu machen. Das nun errechnete vorläufige Resultat sei jedenfalls „schlimmer als erwartet“. „Wenn das Waldwachstum so zurückgeht wie bisher und die Abholzung der Wälder im gleichen Tempo voranschreitet, müssen wir grundlegend neu kalkulieren, wie wir die versprochenen Ziele erreichen wollen.“
Der finnische Naturschutzverband SLL warnt bereits, dass Finnland seine Klimaziele insgesamt verfehlen könne, „was volkswirtschaftlich sehr teuer werden kann“. Der Verband macht eine „verfehlte Forstpolitik“, die nur auf maximale Abholzung statt auf verantwortungsvolle Ressourcenverwaltung ausgelegt sei, für die Entwicklung der letzten Jahre verantwortlich. Die Regierung von Sanna Marin müsse Maßnahmen treffen, um die Entwaldung zu begrenzen und die Freisetzung von Emissionen aus landwirtschaftlichen Flächen zu vermindern. Falls das nicht gelinge, müssten zusätzliche Klimagasreduktionen im Transport- oder Industriesektor erfolgen, was wesentlich schwieriger und teurer werden könnte.
Ist mehr Förderung die Lösung?
Dem gerade verabschiedeten Klimagesetz sei schon das Fundament entzogen, warnt Umweltwissenschaftler Leif Schulman, Generaldirektor des finnischen Umweltinstituts SYKE. Er bezeichnet die neuen Zahlen als „Schock“ und fordert eine staatliche Regulierung des Abholzungstempos. Dieses könne man nicht mehr wie bisher einfach dem Markt überlassen. Seit 2014 gibt es die bis dahin geltenden Bestimmungen, ab welchem Alter Bäume abgeholzt werden dürfen, nicht mehr. Schulman schlägt nun eine Art Klimagassenken-Förderung vor, um Waldbesitzer dafür zu entschädigen, die Wälder länger wachsen zu lassen.
Die Politik versucht dagegen offenbar, auf Zeit zu spielen. Auch er nehme die Zahlen durchaus ernst, reagierte Land- und Forstwirtschaftsminister Antti Kurvinen von der bäuerlich-liberalen Zentrumspartei. Von Markteingriffen halte er aber gar nichts, und man solle erst einmal „nichts überstürzen“, so der Politiker. Abwarten helfe erst recht nicht, kritisiert hingegen Hanna Aho, Nachhaltigkeitsspezialistin beim SLL, denn die aktuelle Entwicklung gehe genau in die falsche Richtung: Mit 30 Prozent sei der Anteil der Holzbrennstoffe an der gesamten finnischen Energieproduktion auf Rekordhöhe gestiegen. Immer mehr Holz werde auch in der Bauwirtschaft verarbeitet, und der Wald solle auch vermehrt fossile Treibstoffe ersetzen.
Auch Russlands Krieg gegen die Ukraine hinterlässt der Expertin zufolge deutliche Spuren im finnischen Wald. Um Moskau zu sanktionieren, verzichtet Finnland auf Holzimporte aus dem Nachbarland. Das dürfte das Abholzungstempo in Finnland weiter steigern. Das scheinbar ambitionierte Klimaziel steht also auf wackligen Füßen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste