Wachstumskrise und Ideenlosigkeit: Peking sucht nach Auswegen
China steht kurz vor dem Nationalen Volkskongress vor großen Herausforderungen – auch ökonomisch. Der Druck auf Staatspräsident Xi Jinping wächst.
Wer dieser Tage durch die Provinzen fährt, der sieht ein Land, dessen Boom-Jahre längst vorüber sind. Für die meisten Chinesinnen und Chinesen ist die Pandemie mit empfindlichen Wohlstandsverlusten einhergegangen. Und der erhoffte Post-Corona-Aufschwung ist ebenfalls ausgeblieben: Ein Großteil der Bevölkerung musste Lohnkürzungen hinnehmen, viele Universitätsabsolventen haben zudem Schwierigkeiten, einen adäquaten Job zu finden.
Dennoch mehren sich die Zeichen, dass der Nationale Volkskongress nicht den erwarteten Reformwurf bringen wird, auf den die Ökonomen hoffen. Denn eigentlich hätten dieser bereits beim sogenannten dritten Plenum des 20. Zentralkomitees angekündigt werden sollen. Doch das im November erwartete Treffen fand bis heute nicht statt. Die meisten Experten deuten dies als ernüchterndes Zeichen.
Ebenso passt ins Bild, dass die Regierung am Montag überraschend eine wichtige Pressekonferenz von der Agenda des Volkskongresses gestrichen hat. Der Ministerpräsident muss sich – erstmals seit mehreren Jahrzehnten – nicht mehr den Fragen der JournalistInnen stellen. Dabei bot ausgerechnet jenes Format eine seltene Möglichkeit, einen schmalen Blick auf die Debatten im Machtapparat zu bekommen.
Die Ziele der Regierung in Peking passen nicht zusammen
Vor genau zwölf Jahren etwa gab der damalige Premier Wen Jiabao bei jener Presskonferenz ein denkwürdiges Zitat: „Ohne erfolgreiche politische Reformen ist es uns unmöglich, die Wirtschaftsreformen vollständig umzusetzen, und die Errungenschaften, die wir in diesen Bereichen erzielt haben, könnten verloren gehen.“
Unvorstellbar, dass einer von Xi Jinpings Ja-Sagern mittlerweile eine solche Mahnung öffentlich äußert. Dabei wäre sie derzeit passender denn je. Denn über ein Jahr nach Ende der Null-Covid-Politik oszilliert die Regierung weiterhin zwischen zwei Zielen, die ganz offensichtlich im Widerspruch zueinander stehen: Wirtschaftswachstum und nationale Sicherheit.
Immer wieder hat die Regierung ambivalente Signale ausgesandt: Wenn etwa Premierminister Li Qiang beim Wirtschaftsforum in Davos die internationalen Investoren umgarnt und das Geschäftsklima in China lobt, während gleichzeitig die Aufsichtsbehörden Razzien bei westlichen Beratungsunternehmen durchführen. Schlussendlich, so lautet die Erkenntnis der meisten Beobachter, behält die nationale Sicherheit stets die Oberhand.
Die Vereinigung mit Taiwan ist Teil der Vision Xi Jinpings
Wie sehr Xi Jinping den Kurs seines Landes prägt, hat nun der Historiker Steve Tsang von der Londoner School of Oriental and African Studies (Soas) gemeinsam mit seiner Kollegin Olivia Cheung analysiert. In ihrem neuen Buch über die politische Gedankenlehre Xi Jinpings argumentieren sie, dass sich die Hardware der Volksrepublik – ein Parteistaat nach leninistischem Vorbild – zwar niemals geändert hat, jedoch Xi dem Land ein grundlegendes Software-Update verpasst hat.
Als der heute 70-Jährige die Parteispitze übernommen hatte, befand sich das Reich der Mitte in einer ideologischen Sinnkrise. Korruption und Werte-Nihilismus hatten die kommunistische Partei ausgehöhlt. Xi reagierte mit einer flächendeckenden Antikorruptionskampagne, die stets auch politische Feinde ausgeschaltet hat. Und er weitete den Einfluss der Parteizellen wieder in sämtliche Bereiche aus – von Privatunternehmen bis hin zu Universitätsinstituten.
Dass Xi damit auch das rasante Wirtschaftswachstum ausbremste, übertüncht er nun zunehmend mit nationalistischen Tönen. Das Versprechen an seine Bevölkerung heißt die „große Verjüngung der chinesischen Nation“; eine Vision, die auch eine Vereinigung mit dem demokratisch regierten Taiwan mit einschließt.
Wirtschaft im Vordergrund
Beim am Dienstag beginnenden Nationalen Volkskongress, dem nicht frei gewählten Parlament der Volksrepublik, wird jedoch vor allem die Wirtschaft im Vordergrund stehen. Allen voran gibt der Premierminister Li Qiang bei seiner Rede am Eröffnungstag das Wachstumsziel für das laufende Kalenderjahr bekannt. Zuletzt hatte die Parteiführung für 2023 „rund 5 Prozent“ ausgegeben. Doch an die offiziellen Zahlen glauben ohnehin nur mehr die wenigsten: Zu sehr haben die Behörden in letzter Zeit Informationszugänge versperrt und statistische Methoden verändert.
Wang Tao, China-Analystin der UBS-Bank, hat kürzlich in einem Kommentar in der Financial Times dargelegt, dass die Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft sehr wohl kein Geheimnis sind: Mit Kredithilfen für Bauentwickler könnten Zahlungsausfälle im Immobiliensektor abgewendet und das Vertrauen der Käufer wiederhergestellt werden, mit einem Stimuluspaket könnte der historisch niedrige Binnenkonsum angekurbelt werden. „Chinas Regierung verfügt über die Instrumente, um den derzeitigen Abschwung zu überwinden“, schlussfolgert Analystin Wang: „Aber der Erfolg wird von rechtzeitigem Handeln, politischer Koordinierung und politischem Willen abhängen.“
Und dieser wiederum hängt zunehmend vom Willen einer einzigen Person ab. Denn Xi Jinping hat sich im letzten Jahrzehnt radikal vom konsensbasierten Führungsmodell des Zentralkomitees verabschiedet und sich stattdessen zum „Kern“ der Partei erhoben. Als Alleinherrscher stehen ihm zwar außergewöhnliche Steuerungsmöglichkeiten zur Verfügung, doch gleichzeitig erhöht sich auch die Gefahr politischer Krisen: Dass etwa China derart lange an seiner dogmatischen Lockdown-Politik festgehalten hat oder seit Beginn des Ukrainekriegs eng an der Seite Putins steht, dafür trägt einzig und allein Xi die Verantwortung.
Nun wird er sich an der wirtschaftlichen Leistung seines Landes messen müssen. Bislang fällt die Bilanz durchwachsen aus.
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