Vorwurf der Wokeness: Zwischen den Stühlen
Fynn Kliemann schimpft angriffslustig über die „woke Szene“. Damit ist er nicht allein. Aber was meint er eigentlich?
I m Streit mit Springer-Chef Mathias Döpfner, der einen „transskeptischen“ (im Sinne von „wahrheitsskeptischen“) Artikel in der Welt überraschend klar verurteilt, hat Bild-Redakteurin Judith Sevinç Basad bei ihrem Herzensblatt gekündigt. Die Bild-Zeitung ist ihr nun zu links, so wie es ja auch Menschen gibt, denen Wasser zu trocken ist. Man verweigere ihr, wofür sie „seit Jahren mit vollem Idealismus kämpfe: vor den Gefahren des woken Aktivismus zu warnen“.
Das „Woke“, so legt der Kontext nah, ist per se ein Übel, das mit offenem Visier und heißem Herzen bekämpft werden muss. So beklagt auch der Influencer Fynn Kliemann, dass ein „Teil der linken, woken Szene“ seine Entschuldigung für Unregelmäßigkeiten bei einem Maskendeal nicht ausreichend akzeptiere, während der Frankfurter Fußballprofi Martin Hinteregger, wegen eines rechtsextremen Unterstützers des von ihm organisierten Fußballturniers in die Kritik geraten, von einer „medialen Hetzjagd“ spricht: Wokigall, ick hör dir trapsen.
Doch was ist eigentlich dieses „Woke“, von dem nun alle reden? Der Puls der Zeit schlägt oft sehr leise. Deshalb hat auch der Autor dieser Zeilen das Wort eine Spur zu lange strapaziert. Dabei war es da schon vergiftet als höhnischer Kampfbegriff von liberal bis rechts, eine negative Bedeutungsentwicklung ähnlich der des „Gutmenschen“. Dabei bedeutet „woke“ laut Duden nur: „In hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung.“
Lieber bloke als woke
Doch die Kritisierenden sehen sich offenbar lieber als verschnarchte Schlechtmenschen. Mit der Attitüde 15-jähriger Bushäuschenentglaser lehnen sie Rücksicht und („aaahh, nicht das Wort!“) „Achtsamkeit“ als irgendwie weich, wessihaft, verlogen, unmaskulin etc. ab. Man fühlt sich einfach wohler bei den Coolen in der Raucherecke. Bewusstsein ist doch für Langweiler, lieber bloke als woke.
Ich hätte es eher merken müssen; spätestens, als der Klang des Wortes auch in meinem Kopf anfing, in leicht ironischem Unterton zu schwingen, denn für mein Alter bin ich zwar, was korrekte Sprache betrifft, noch ansatzweise gutwillig unterwegs, und doch fühle ich mich oft wie zwischen den Stühlen sitzend: Hier die alternden Peers mit ihrer durchschaubaren männlichen Grundgekränktheit, bei denen ich mir oft wünschte, dass sie sich über wichtige Themen, von denen sie sich persönlich weniger betroffen fühlen, quantitativ und qualitativ ähnlich echauffieren könnten wie zum Beispiel über Gendersprache.
Oder dort die Leute von FFF Hannover, die wie schlecht entnazifizierte Lateinlehrer in den 1960er-Jahren einer Frau mit Dreadlocks empfehlen, sich erst mal die Haare zu schneiden, bevor sie wieder zum Unterricht erscheinen darf.
Ein Traum von Marschmusik
Es gibt noch viele Beispiele mehr. Doch die anzuführen bringt nichts, weil die Grenze zwischen (vermeintlichem) Auswuchs und berechtigter Sensibilität sowieso jede für sich selbst ziehen muss. Und da spielt so viel eine Rolle: Geschmack, Sozialisation, Alter, Blödheit. Eine pauschale Verdammung diskriminierungskritischer und emanzipativer Denkweisen und Diskurse aufgrund als absurd empfundener Extrempositionen ist dennoch hochmütiger und bequemer Scheiß.
„Eine der extremen Auswüchse (des Kulturkampfs; d. A.) wird ‚Woke‘ genannt“, schreibt Esther Bockwyt in ihrem Gastkommentar „Woke-Kultur – eine zwanghafte Einengung“ in der rechtskonservativen NZZ. Demnach gibt es also keine Auswüchse „woker“ Denkweisen, sondern das „Woke“ an sich ist bereits der Auswuchs. Bald spielt sicher wieder überall Marschmusik.
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