Vorwürfe gegen Gelsenkirchener Klinik: Wer heilt, hat Recht?
Seit dem Dokumentarfilm „Elternschule“ steht eine Gelsenkirchener Kinderklinik unter Beschuss. Der Vorwurf: Kindesmisshandlung.
Joshua schreit und weint, die Tränen laufen über sein Gesicht, während er in der Ecke unterm Waschbecken kauert. Er kann sich kaum beruhigen, seine Mutter ist verschwunden und kommt einfach nicht wieder. Nachdem sie ihn dort auf Anweisung der Ärzte zurückgelassen hat, ist er weinend zusammengebrochen. Neben ihm spielt eine Therapeutin ungerührt mit Bauklötzen.
Es sind solche Szenen, die den Film „Elternschule“ an manchen Stellen schwer erträglich machen. Über ein Jahr haben zwei Dokumentarfilmer die Therapie an der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen begleitet. Hierhin kommen die Familien, bei denen keine andere Therapie angeschlagen hat. Die härtesten Fälle. Sagt die Klinik. Kritiker sagen: Was die Klinik da macht, ist Kindesmisshandlung. In einem Shitstorm im Internet warfen sie der Klinik vor, Kindern den Willen zu brechen.
„Elternschule“ zeigt verzweifelte Mütter, deren Kinder 14 Stunden am Tag schreien, beißen oder nur noch Chicken Nuggets essen. Ihnen allen, den Kindern und deren Eltern, soll in Gelsenkirchen geholfen werden, aus diesen festgefahrenen Verhaltensmustern herauszukommen. Für drei Wochen ziehen die Kinder mit ihrer engsten Bezugsperson in die Klinik und absolvieren Therapien, Verhaltenstrainings und Entspannungsübungen.
Immer mit dabei: der ärztliche Leiter Kurt-André Lion und Dietmar Langer, Psychologe und leitender Therapeut. Beide arbeiten auf der Station für pädiatrische Psychosomatik, Allergologie und Pneumologie. Die Kinder, die zu ihnen überwiesen werden, haben Schlaf- oder Fütterstörungen. Anderen Patienten diagnostiziert die Klinik Regulationsstörungen – sie können sich kaum selbst beruhigen und schreien ständig.
„Elternschule“, 2018. Regie: Jörg Adolph, Ralf Bücheler.120 Minuten, Termine: www.elternschulefilm.de
Information, Training, Stabilisierung
Gegen all das scheint die Klinik eine Geheimwaffe zu besitzen: Ihre „multimodale 3-Phasen-Therapie“, mit der sie sämtliche Krankheitsbilder behandelt. Im Rahmen der drei Phasen – Information, Training, Stabilisierung – absolvieren die Kinder je nach Erkrankung verschiedene kombinierte Therapien. Als wichtige Bestandteile listet die Klinik auf ihrer Website unter anderem Essverhaltenstraining, Schlafverhaltenstraining oder Bindungs-Trennungs-Training auf. Diese Therapie gibt es so nur in der Kinderklinik Gelsenkirchen, in Fachkreisen ist sie höchst umstritten.
Die Verhaltenstrainings zeigt auch der Film: Das Esstraining soll den Kinder vermitteln, in einem bestimmten Zeitfenster ruhig zu essen, fürs Schlaftraining bringen ihre Eltern sie abends in Gitterbetten in Einzelzimmer. Wenn sie nachts schreien oder etwas passiert, kommt statt der Eltern eine Nachtschwester. Beim Bindungs-Trennungs-Training sollen die Kinder in der „Mäuseburg“ lernen, mit der Trennung von ihren Eltern umzugehen. Das Konzept dahinter: Es gibt bestimmte Regeln und Strukturen, die die Kinder erlernen müssen.
Viele Zuschauer reagierten schockiert auf die Szenen, die diese Verhaltenstrainings und die Reaktionen der Kinder zeigen. Die Facebook-Seite zum Film musste wegen eines Shitstorms offline gehen. Der Deutsche Kinderschutzbund meint, in zahlreichen Szenen werde psychische und physische Gewalt gegen Kinder gezeigt. Die Staatsanwaltschaft nahm kurzzeitig Ermittlungen wegen des Verdachts auf Misshandlung Schutzbefohlener auf, die kurz später allerdings wieder eingestellt wurden, da keine Straftaten vorlägen.
Bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) sieht man das nicht ganz so drastisch. Kerstin Konrad ist Vorstandsmitglied und Professorin im Bereich der Kinderpsychologie an der Uniklinik Aachen. „Manches war absolut leitliniengerecht, zum Beispiel, dass man bei Essstörungen feste Mahlzeiten bietet und die Kinder nichts zwischendurch essen sollen“, sagt Konrad. Auch der Psychologe sei empathisch im Kontakt mit den Eltern und Kindern gewesen. Das gesamte Behandlungsmodell bezeichnet sie dennoch als „fragwürdig“.
30-jähriger Erfahrungsschatz
In einer Stellungnahme der DGKJP heißt es dazu, die im Film dargestellten Behandlungsmethoden zum Üben von Trennungssituationen und zur Schlafanbahnung seien so weder wissenschaftlich evaluiert noch vertretbar. Sie stammen von der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen selbst. Die Klinik wirbt auf ihrer Website damit, dass es die multimodale 3-Phasen-Therapie in der Form nur in Gelsenkirchen gebe. Die Abteilung beschäftige sich seit fast 30 Jahren mit der Behandlung chronischer psychosomatischer Erkrankungen – aus diesem Erfahrungsschatz habe die Klinik die Therapie entwickelt.
Als Reaktion auf die Diskussionen erklärte die Klinik später, sie arbeite wie jede andere psychosomatische Klinik auch. Wenn die Klinik, wie sie schreibt, wirklich eine selbst entwickelte Therapie anwendet, hat sie deren Wirksamkeit bis jetzt allerdings nicht durch eigene wissenschaftliche Studien abgesichert.
Dietmar Langer schreibt selbst, dass er die Therapie maßgeblich mitentwickelt habe – er ist seit 1991 Teil der Abteilung, also auch seit beinahe 30 Jahren. In seiner Vita steht die „Entwicklung therapeutischer Programme für die stationäre psychosomatische Therapie“.
Ein anderer, der die Station in dieser Zeit mitprägte, ist der Professor Ernst August Stemmann. Er war über Jahre ärztlicher Leiter der Station und arbeitete als solcher eng mit Langer zusammen. 2008 löste ihn Kurt-André Lion, der ebenfalls im Film vorkommt, als ärztlicher Leiter der Station ab. Stemmann praktiziert seitdem nicht mehr in Gelsenkirchen.
Trennungs-Training als Neurodermitis-Therapie
Stemmann entwickelte das sogenannte Gelsenkirchener Behandlungsverfahren speziell für die Therapie von Neurodermitis. Diese ist ebenfalls Teil der Abteilung, in der Langer und Lion heute noch arbeiten.
Stemmann erklärt seinen Ansatz in einem Artikel von 2004: Neurodermitis werde durch ein „Trennungstrauma“ ausgelöst, die Kinder müssten für die Behandlung also lernen, mit Trennungen umzugehen. Die Neurodermitis verschwinde dann von selbst. Wissenschaftlich ist diese These nicht belegt und wird extrem kritisch gesehen, da Neurodermitis auch durch genetische Faktoren ausgelöst wird und der Ansatz solche Faktoren außer Acht lässt.
In Stemmanns Artikel aus der Zeitschrift Umweltpanorama heißt es: „Der Allergiekranke lernt, sich an bestimmte Stressoren zu gewöhnen, (…) indem er sich der traumatischen Situation, die ihn hat krank werden lassen, stellt und sie aktiv verarbeitet; ein Beispiel wäre die Überwindung der Trennungsangst bei der Neurodermitis durch ein Trennungs-Bindungs-Training.“ Trennungs-Training als Neurodermitis-Therapie. Co-Autoren des Beitrags: Dr. Kurt-André Lion und Dietmar Langer. Auch wenn sie es heute nicht mehr tun, haben Langer und Lion über Jahre Stemmanns problematische Ansätze mitvertreten.
Mittlerweile ist auf der Seite der Klinik nichts mehr vom „Gelsenkirchener Behandlungsverfahren“ zu lesen. Auf Anfrage der taz erklärte die Klinik zum 3-Phasen-Modell, das auch in der Neurodermitis-Behandlung Anwendung findet: „Das Programm wurde nach dem Ausscheiden von Prof. Stemmann im Jahr 2008 zur leitliniengerechten Behandlung komplexer psychosomatischer Krankheitsbilder entwickelt.“
Standards nicht erfüllt
Die Therapie erfolge auf Basis der aktuellen Leitlinien und sei vollkommen unabhängig von der Bezeichnung „Gelsenkirchener Behandlungsverfahren“ zu sehen. Die Klinik beruft sich auf 30 Jahre Erfahrung, distanziert sich aber gleichzeitig von ihrer Vergangenheit. Doch auch wenn die Therapie mittlerweile unabhängig von der Vergangenheit zu sehen ist – die Ärzte sind es nicht.
Auch nach 2008 arbeiteten Lion und Langer noch mit Stemmann zusammen. So veröffentlichten sie noch 2011 gemeinsam eine Evaluationsstudie. Ausgangsfrage war, welche Auswirkungen die spezielle Behandlung von Neurodermitis in Gelsenkirchen auf die Krankheit und die Lebensqualität in den Familien hat.
Teilnehmerzahl der Studie: 15, eine Kontrollgruppe, wie es wissenschaftlicher Standard wäre, gab es nicht. Doch auch wenn die Studie von 2011 diese Standards nicht erfüllt und die Wirksamkeit der Therapie dadurch nicht objektiv beweist – die befragten Eltern gaben dort jeweils eine enorme Besserung der Krankheit und ihrer Lebensqualität durch die Behandlung an.
Auch in der aktuellen Debatte beruft sich die Klinik immer wieder auf ihre Erfolge und die Berichte begeisterter Eltern. Auf der Internetseite berichtet eine Mutter im Video, die Neurodermitis ihres Sohns habe sich enorm verbessert und er höre auch viel besser auf sie. Wer heilt, hat recht?
Kontakt zu den Kritikern
„In gewissem Maße ja“, sagt Kerstin Konrad von der Uniklinik Aachen, „Für mich ist eine Therapie aber dann sinnvoll, wenn nach objektiven Kriterien überprüft wurde, dass es den Betroffenen hinterher besser geht. Wenn nur die Eltern glücklich werden und die Kinder Schaden nehmen, darf der Satz nicht so stehen bleiben.“
Inwieweit darf man in der Medizin also „einfach mal ausprobieren“? Neue Therapien bringen die Wissenschaft voran, gleichzeitig darf dadurch aber niemand zu Schaden kommen. Und genau das, befürchten viele auf Basis des Films, könnte bei den Kindern passieren.
Allerdings: Wer den Film gesehen hat, kennt nur 180 Minuten aus der Therapie. Die eigentliche Behandlung in der Klinik dauert drei Wochen, dazu kommen Kontrolltermine Monate später. Wichtige Bestandteile wie das gemeinsame Entspannungstraining von Eltern und Kindern kommen nur in kurzen Sequenzen vor, weil der Film die Behandlung verkürzt darstellt.
Die Klinik fühlt sich deshalb missverstanden und kündigt an, den Kontakt zu Kritikern zu suchen. Bis dahin können die sich nur auf der Website informieren oder beim Verein AUK, in dem sich die Familien ehemaliger Patienten aus Gelsenkirchen vernetzen. Der verkauft auf seiner Seite Infomaterialien zur Gelsenkirchener Therapie, unter anderem von Lion, Langer – und Stemmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher