Vor dem EU-Gipfel: Auf Schmusekurs mit der Türkei
Beim EU-Treffen am Donnerstag und Freitag setzt Brüssel auf eine Wiederannäherung an die Erdoğan-Regierung. Sanktionen sind vom Tisch.
Die Türkei hatte im Sommer 2020 Griechenland und Zypern mit Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer provoziert; es kam zu militärischen Zwischenfällen. Nach Vermittlung durch Deutschland gelang es zuletzt, den Streit zu entschärfen und Gespräche in Gang zu bringen. Die Bundesregierung hat sich zudem erfolgreich für eine „positive Agenda“ eingesetzt, die bis zu einem weiteren EU-Gipfel im Juni umgesetzt werden soll.
Als erster Schritt sei ein Besuch der EU-Spitzen in der Türkei denkbar, hieß es in deutschen Regierungskreisen. Berlin wünscht sich zudem eine Neuauflage des Flüchtlingsdeals, den Kanzlerin Angela Merkel 2016 mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingefädelt hat. Er sieht die Rücknahme von nicht anerkannten syrischen Bootsflüchtlingen in die Türkei vor, wurde zuletzt aber kaum noch umgesetzt. Anfang 2020 hat Erdoğan sogar kurzzeitig die türkisch-griechische Grenze geöffnet.
Ebenfalls im Gespräch ist eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei. Sanktionen sind dagegen vom Tisch. Die EU hatte sich nach der Krise im östlichen Mittelmeer zwar auf automatische Sanktionen verständigt, diese jedoch vor einer Woche überraschend einkassiert. Auch beim Treffen der EU-Außenminister am Montag, bei dem ein ganzes Bündel von Sanktionen gegen China, Myanmar und andere Länder verhängt wurde, blieb die Türkei verschont.
„Doppelstandards“ zugunsten der Türkei
Es gebe „Licht und Schatten“, sagte Außenminister Heiko Maas zur Begründung. Zu den Schattenseiten zählt der Verbotsantrag gegen die Oppositionspartei HDP sowie der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen. Die Türkei missachtet zudem ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, das im Dezember 2020 die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş forderte. In vergleichbaren Fällen hat Brüssel mit Sanktionen reagiert.
Die EU lege „Doppelstandards“ an, kritisierte der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar. Die EU-Politiker seien „dankbar“ für die Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingspolitik und deshalb bereit, ihre Prinzipien zu opfern.
Für ein härteres Vorgehen sprach sich Human Rights Watch aus. Die EU-Chefs sollten nicht zur Tagesordnung übergehen, „während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte eskaliert“, erklärte Geschäftsführer Kenneth Roth.
Eiszeit zwischen Russland und EU
Ein weiteres Reizthema beim EU-Gipfel ist Russland. Die Beziehungen hatten sich in den letzten Wochen massiv abgekühlt, nachdem die EU mehrere Sanktionen im Fall des Kremlkritikers Alexei Nawalny verhängt hatte. Der Gipfel sollte nun eigentlich eine strategische Neubewertung vornehmen. Dies wurde jedoch von der Tagesordnung gestrichen. Nun soll Michel nur noch von einem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin berichten.
Das Verhältnis zu Russland sei auf einem historischen „Tiefpunkt“, hat Michel bereits öffentlich erklärt. Putin wiederum warf den Europäern eine „konfrontative“ Politik vor. Russlands Außenminister Sergei Lawrow sagte, Moskau werde künftig nicht mehr mit der EU reden, sondern nur noch mit einzelnen Mitgliedsländern. Zudem will sich Russland enger mit China abstimmen. Peking war ebenfalls mit EU-Sanktionen belegt worden und hat danach Vergeltung geübt – etwa mit Reiseverboten für mehrere Europaabgeordnete.
Positive Impulse erhofft sich Michel von einem kurzfristig angesetzten Videotermin mit US-Präsident Joe Biden. Es sei „Zeit zur Wiederherstellung unserer transatlantischen Allianz“, twitterte er. Allerdings gibt es auch mit den USA Streit, etwa über die Sanktionen gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Man könne nicht immer einer Meinung sein, hieß es dazu in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit