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Vor dem EU-GipfelAuf Schmusekurs mit der Türkei

Beim EU-Treffen am Donnerstag und Freitag setzt Brüssel auf eine Wiederannäherung an die Erdoğan-Regierung. Sanktionen sind vom Tisch.

Die EU will ihre Beziehungen zur Erdoğan-Regierung wieder ausbauen Foto: Francois Lenoir/reuters

Brüssel taz | Nach einer monatelangen Krise, die fast zum Krieg in der Ägäis geführt hätte, will die EU ihre Beziehungen zur Türkei wieder ausbauen. Dies kündigte Ratspräsident Charles Michel in einer Einladung für einen EU-Videogipfel an, der am Donnerstag beginnt und bis Freitag dauert. Geplant sei eine Annäherung in mehreren Phasen, die auch wieder zurückgenommen werden könne. Weitere Themen des Gipfels sind Russland, die USA und die Coronapandemie.

Die Türkei hatte im Sommer 2020 Griechenland und Zypern mit Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer provoziert; es kam zu militärischen Zwischenfällen. Nach Vermittlung durch Deutschland gelang es zuletzt, den Streit zu entschärfen und Gespräche in Gang zu bringen. Die Bundesregierung hat sich zudem erfolgreich für eine „positive Agenda“ eingesetzt, die bis zu einem weiteren EU-Gipfel im Juni umgesetzt werden soll.

Als erster Schritt sei ein Besuch der EU-Spitzen in der Türkei denkbar, hieß es in deutschen Regierungskreisen. Berlin wünscht sich zudem eine Neuauflage des Flüchtlingsdeals, den Kanzlerin Angela Merkel 2016 mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingefädelt hat. Er sieht die Rücknahme von nicht anerkannten syrischen Bootsflüchtlingen in die Türkei vor, wurde zuletzt aber kaum noch umgesetzt. Anfang 2020 hat Erdoğan sogar kurzzeitig die türkisch-griechische Grenze geöffnet.

Ebenfalls im Gespräch ist eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei. Sanktionen sind dagegen vom Tisch. Die EU hatte sich nach der Krise im östlichen Mittelmeer zwar auf automatische Sanktionen verständigt, diese jedoch vor einer Woche überraschend einkassiert. Auch beim Treffen der EU-Außenminister am Montag, bei dem ein ganzes Bündel von Sanktionen gegen China, Myanmar und andere Länder verhängt wurde, blieb die Türkei verschont.

„Doppelstandards“ zugunsten der Türkei

Es gebe „Licht und Schatten“, sagte Außenminister Heiko Maas zur Begründung. Zu den Schattenseiten zählt der Verbotsantrag gegen die Oppositionspartei HDP sowie der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen. Die Türkei missachtet zudem ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, das im Dezember 2020 die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş forderte. In vergleichbaren Fällen hat Brüssel mit Sanktionen reagiert.

Die EU lege „Doppelstandards“ an, kritisierte der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar. Die EU-Politiker seien „dankbar“ für die Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingspolitik und deshalb bereit, ihre Prinzipien zu opfern.

Für ein härteres Vorgehen sprach sich Human Rights Watch aus. Die EU-Chefs sollten nicht zur Tagesordnung übergehen, „während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte eskaliert“, erklärte Geschäftsführer Kenneth Roth.

Eiszeit zwischen Russland und EU

Ein weiteres Reizthema beim EU-Gipfel ist Russland. Die Beziehungen hatten sich in den letzten Wochen massiv abgekühlt, nachdem die EU mehrere Sanktionen im Fall des Kremlkritikers Alexei Nawalny verhängt hatte. Der Gipfel sollte nun eigentlich eine strategische Neubewertung vornehmen. Dies wurde jedoch von der Tagesordnung gestrichen. Nun soll Michel nur noch von einem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin berichten.

Das Verhältnis zu Russland sei auf einem historischen „Tiefpunkt“, hat Michel bereits öffentlich erklärt. Putin wiederum warf den Europäern eine „konfrontative“ Politik vor. Russlands Außenminister Sergei Lawrow sagte, Moskau werde künftig nicht mehr mit der EU reden, sondern nur noch mit einzelnen Mitgliedsländern. Zudem will sich Russland enger mit China abstimmen. Peking war ebenfalls mit EU-Sanktionen belegt worden und hat danach Vergeltung geübt – etwa mit Reiseverboten für mehrere Europaabgeordnete.

Positive Impulse erhofft sich Michel von einem kurzfristig angesetzten Videotermin mit US-Präsident Joe Biden. Es sei „Zeit zur Wiederherstellung unserer transatlantischen Allianz“, twitterte er. Allerdings gibt es auch mit den USA Streit, etwa über die Sanktionen gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Man könne nicht immer einer Meinung sein, hieß es dazu in Berlin.

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14 Kommentare

 / 
  • "Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat erarbeitet und auf einem Kongress in der türkischen Metropole verabschiedet worden. Hauptpunkt der Konvention sind Schritte zum Schutz von Frauen vor Gewalt auf der Straße und zu Hause.

    Diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Konvention, die auch das Verbot von Vergewaltigung in der Ehe und weiblicher Genitalverstümmelung beinhaltet, wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten Politiker noch 2011 unterschrieben und 2012 im türkischen Parlament ratifiziert" heißt es in dem oben verlinkten Artikel - und die Kündigung dieser Konvention steht einer Annäherung nicht im Wege?

    Das ist eine ethische Bankrotterklärung, Menschenrechte, die vielbeschworenen europäischen Werte - zählen nicht. Völlig inakzeptabel.

  • Während man gegen Russland und China heftig poltert, werden die Türkei und Saudi-Arabien doch richtig lieb gewonnen. Woran kann das liegen?

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Ebenfalls im Gespräch ist eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei.""



    ==



    Das gesamte Bild erschliesst sich aus dem Artikel nicht.

    Erdogan steht unter heftigem Druck durch eine einbrechende Wirtschaft welche derzeit zu einem drastischen Verfall der türkischen Lira führt. Brexitcountry nutzt aber derzeit die Gunst der Stunde und fährt die Wirtschftsbeziehungen zu Erdogan hoch -- und ist darüber hinaus mittlerweile Rüstungsexporteuer



    Nr. 1 für Rüstungsgüter welche in die Türkei geliefert werden.

    Die Bundesrepublik spielt das Spiel -- good cop -- bad cop wobei die Rolle des bösen Polizisten die Vereinigten Staaten übernehmen mit Sanktionsdrohungen gegen die Türkei - wegen des Einsatzes des russischen Raketensystems S - 400.

    Also hängen die EU & Bundesrepublik Zuckerstangen in Form einer verbesserten Zollunion aus dem Fenster - welche das Problem der britischen Einflussnahme und die Macht, welche Novichok Putin auf Erdogan ausübt, relativieren.

    Darüber hinaus ergeben sich für die EU und für die Bundesrepublik durch diese Politk Werkzeuge, auf die Flüchtlingspolitik der Türkei Einfluss zu nehmen.







    Der EU geht es darum die Türkei davon zu überzeugen das Wirtschftsbeziehungen zur EU/Bundesrepublik die bessere Option sind.

    Da die EU & die Bundesrepublik im Gegensatz zu Putin - und neuerdings auch Brexitcountry - mangels Potential relativ selten mit militärischem Muskelspiel beeindrucken & kommt es auf den intelligenten Einsatz des politisch-wirtschaftlichen Potentials zum richtigen Zeitpunkt an um dem



    extrem frauenfeindlichen Sultan den richtigen Weg zu weisen.

    Eine Politik, welche die Türkei in die Arme des Hybridkriegers Putin treibt ist in höchstem Masse unverantwortlich - gegenüber der syrischen -aber auch gegenüber der EU - Bevölkerung. Die Verbesserung des friedlichen Austausches - auch hinsichtlich der türkischstämmigen Bevölkerung in der Bundesrepublik - dürfte für beide Seiten als Win - Win Situation angesehen werden.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @06438 (Profil gelöscht):

      Vielen Dank. Sie haben mir jetzt in wohlgesetzten Worten das in den Mund gelegt, weshalb ich es grad so verwerflich finde, dem Erdogan auch nur einen Krümel Zucker zu bieten. Der macht was er will, nimmt was er will und er bekommt was er will. Und was seine Unterschrift wert ist, sahen wir letzte Woche. Da gefällt mit KEINER schon deutlich besser:



      "Das ist eine ethische Bankrotterklärung, Menschenrechte, die vielbeschworenen europäischen Werte - zählen nicht. Völlig inakzeptabel."



      Kürzlich las ich die rhetorisch gestellte Frage eines Menschenrechtsaktivisten in einem Interview über die langjährige Haftstrafe des HDP-Vorsitzenden in der Türkey: "WIE VIEL NOVALNY SIND DAS ?.

      • 0G
        06438 (Profil gelöscht)
        @82286 (Profil gelöscht):

        Leider habe ich nicht verstanden um was es Ihnen geht.

        Geht es Ihnen um die gegen das Völkerrecht verstossenden nationalen und internationalen Nerven-gifteinsätze (NOVALNY, meinen Sie Nawalny?) oder geht es Ihnen um die Wagnermilizen, die im russisch-iranisch besetzten Teil Syriens wie Terroristen agieren - oder geht es Ihnen um den türkisch besetzten Teil Syriens inklusive dem Aufbau türkischer ziviler Strukturen inklusive Währungsumstellung auf die Lira?

        Sehr gern erkläre ich Ihnen den Tenor des Artikels: "" Problematik europäischer Außenpolitik gegenüber dem frauen - und demokratiefeindlichen Diktator Erdogan - im Zusammenhang mit den Spaltungsversuchen russsischer Außenpolitik gegen die EU mit militärischer Bedrohungs-komponente.""

        short and simple:



        Nicht psychologische oder erratische Eigenschaften von Individuen sind das Thema - sondern interessengeleitete menschenrechtsunterstützende Außenpolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Union.

        • 8G
          82286 (Profil gelöscht)
          @06438 (Profil gelöscht):

          Teil: 1



          Danke für die Märchenstunde “short and simple”. Könnte von einem Romancier des Außenministeriums als Vorlage für eine Sonntagsrede stammen. Von was, besser von wem, reden wir, wenn es um China geht, wenn es um Russland geht, wenn es um Ungarn geht, wenn es um Polen geht, wenn es um die Philippinen geht, wenn es um Syrien geht, wenn es um Ägypten geht und jetzt letztendlich auch um die Türkei. Und bis zum 20. Januar war auch die USA in diesem Club.



          Es geht in allen diesen Fällen um extrem gewissenlose/auffällige Politiker, die ihr Land prägen/unterdrücken, das entsprechende Image verpassen und genau so agieren – innen wie außen. Und jetzt möchte die EU ausgerechnet einem der Hardliner in diesem Verein, den rechten Weg weisen?



          Ich dränge Ihnen meine Version über die Gründe der Annäherung an die Türkei, basierend auf abgehörte Telefonate, kurz und schmerzlos, einfach auf. Die Namen der Gesprächsteilnehmer dürfen aus Datenschutzgründen selbstverständlich nicht genannt werden.



          So geht’s los: “Jaaaaa - VdL”. “Hallo Uschi, hier Rhein-Metall, wir kennen uns, Du weißt schon, der Dieter. Horch mal: der Erdogan die Pfeife, nix drauf, aber an 100 unserer besten Panzer interessiert.”



          VdL:”Das geht garnicht. Wir haben Eiszeit. Hihihi. Und außerdem beschießt er damit doch seine eigenen Leute und seine Kurden, die er zugegebenermaßen garnicht leiden kann. Und die Nachbarn. Hihihi.”

        • 8G
          82286 (Profil gelöscht)
          @06438 (Profil gelöscht):

          Teil:2



          Dieter:”Davon weiß ich nichts. Also: Du sorgst jetzt für gutes Wetter mit dem Sultan. – Wie ? Du meinst, der hat hat nix auf der Hohen Kante? Sagte ich doch schon. Wir fahren die übliche Schiene: Arbeitsplätze, Du weißt schon. Und abgesichert wird die Sendung mit dem Paketdienst HERMES.”



          Hörbar erleichtert kam von VdL ein “OK”.



          Kaum hatte sie aufgelegt: “Blom+Voss hier. Horch mal Uschi: wir verkaufen dem Erdogan eine Fregatte.”



          VdL:” Manfred, das geht nicht. Wir heizen grad die Eiszeit mit der Türkei an. Und erst die Griechen. Die werden sich da mal so richtig bockbeinig anstellen.”



          Manfred: “Uschi, mach Dir keine Sorgen. Kennst uns doch. Denen haben wir ein U-Boot annonciert, mit welchen sie die Fregatte versenken könnten – im Notfall. Der ja vielleicht/hoffentlich bald eintritt.”



          Und so ging es den ganzen lieben langen Tag weiter. Bis ich ermattet den Stecker zog.



          PS: Sollten Sie einen Tipp-, Schreib-, Namens- oder sonstigen Fehler entdecken, lassen Sie sich nicht ablenken, sehen Sie darüber hinweg und versuchen Sie den Sinn hinter dem Text zu erkennen.

          • 0G
            06438 (Profil gelöscht)
            @82286 (Profil gelöscht):

            Über Ihre Antwort bin ich in allerhöchstem Masse entsetzt - weil sie duch undifferenzierten und noch dazu mit naiven Populismus verhindern, das Armagedon, welches sich derzeit im Nahen Osten entwickelt, klar zu benennen.

            Darüber hinaus agieren sie hinter einer anrüchigen Nebelwolke von verlogenem Pazifismus - den sie im Kern gleich mitzerstören. Oder warum verschweigen sie die Stationierung von S-400 Raketen an der türkischen Grenze?

            Klartext - Ansage der Europäischen Union vom 25.03.2021:

            ""Angesichts der konstruktiveren Haltung der Türkei in letzter Zeit sind wir bereit, uns auf Bereiche von gemeinsamem Interesse wie Migration und Zoll einzulassen.""

            ""Wenn die Türkei jedoch zu einseitigen Aktionen oder Provokationen zurückkehrt, insbesondere im östlichen Mittelmeerraum, werden wir unsere Zusammenarbeit einstellen.""

            Die Hoffnung der 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei und der Millionen von Flüchtlingen in den Lagern liegt einzig und allein an den Zuwendungen der Bundesrepublik und der EU sowie einiger anderer westlicher Geberländer - zu einem Zeitpunkt, an dem das Assad-Syrien in Hunger, Elend, Korruption durch die Shabiha und darüber hinaus in einen schiitischen Milizenmilitarismus allerschlimmster Sorte versinkt. Gefangene in Syrien verhingern - weil weder Nahrungsmittel noch Impfstoffe durch die Machthaber Iran /Russland in das geschundene Land geschickt werden.

            Angelpunkt hinsichtlich von Hilfaktionen ist der türkische Diktator, Frauenfeind und einer der übelsten Rassisten namens Erdogan der die türkische Lira, türkische Verwaltung und Krankenhäuser im türkisch besetzten Teil Syriens eingeführt hat. Deshalb können Syrer dort überleben - auch weil genügend Nahrungsmittel aus der Türkei in den türkisch besetzten Teil Syriens transportiert werden.

            Überleben ist im russisch/iranisch besetzten Teil Syriens fast nicht möglich - dort wird weiterhin geflüchtet.

            Was wollen sie - Wachsendes Chaos, Hungerepedemien oder den Einfluss der EU ?

  • Schmusekurs mit der Türkei?



    Schämt Euch, Ihr da im Regierungsviertel!

  • "...Verbotsantrag gegen die Oppositionspartei HDP sowie der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen."

    Ja. Das sind gute Gründe, Sanktionen vom Tisch zu nehmen. Aber wer soll dann der EU ihre moralische Entrüstung in anderen Fällen glauben?

  • Arschkriecherballade pur: Der Lange & der Kurze van slim&slime!

    Na Mahlzeit - Brown-Nosing vom Feinsten - 🤮

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      Absolut das sich die Politiker nicht schämen.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      LOWANDORDER sei Dank - er findet immer wieder die richtigen Worte. Es ist kaum auszuhalten, wie wir von Tyrannen wie Erdogan, Orban und Kaczynski zu eurpäischen Deppen gemacht werden (dürfen).

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Sanktionen sind vom Tisch.



    Völlig irre!



    Man hat wohl große Angst, dass die Annäherung der Türkei an Russland Fortschritte macht. Da spielen die vielen tausend Inhaftierten in der Türkein keine Rolle!

    Das ist üble Politik!