Volksinitiative vor Gericht: Hamburg gegen direkte Demokratie
Eine Hamburger Volksinitiative will Bürgerentscheide auch auf Bezirksebene verbindlich machen. Der Senat hält das für verfassungswidrig und klagt.
Am Dienstag beginnt deshalb die mündliche Verhandlung vor dem Hamburgischen Verfassungsgericht. Es soll auf Antrag des rot-grünen Senats über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit und damit über die Durchführung des Volksbegehrens entscheiden. Die Ini hält das Vorgehen für absurd. „Uns geht es um ein Mehr an Beteiligung und Demokratie“, sagt deren Sprecher Bernd Kroll.
Mitte 2019 hatte die vom Verein „Mehr Demokratie“ angeführte Volksinitiative ihre Arbeit aufgenommen. Insgesamt hatten sich rund 30 Bürgerinitiativen in dem Bündnis vereint, um künftig auch Bürgerentscheide auf Bezirksebene rechtlich bindend zu machen.
„Erfolgreiche Bürgerentscheide oder der Beschluss des Bezirks über die Annahme von Bürgerbegehren dürfen nur im Wege eines neuen Bürgerentscheids abgeändert werden“, lautet eine der zentralen Forderungen. Denn bezirkliche Bürgerbegehren kann der Senat bislang mit dem Verweis ablehnen, dass ein gesamtstädtisches Interesse gegeben sei.
Zu viele Bürgerentscheide würden außer Kraft gesetzt
Die Initiator:innen beklagen, dass die Stadt seit der Einführung mehr als 20 Bürgerentscheide und Bürgerbegehren evoziert, also außer Kraft gesetzt, oder aber alternativ die Bezirke angewiesen habe, die aufgeworfene Frage im Sinne des Senats zu bearbeiten.
Seit 1998 gibt es das Gesetz über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, seither wurden rund 150 Entscheide und Begehren auf bezirklicher Ebene angeschoben. Einer Untersuchung von „Mehr Demokratie“ zufolge ging es dabei thematisch überwiegend um Wohngebietsprojekte, um öffentliche Sozial- und Bildungseinrichtungen sowie um Verkehrsprojekte, auf die Bürger:innen Einfluss nehmen wollten.
Marcel Schweitzer,Sprecher des Hamburger Senats
Marcel Schweitzer, Sprecher des Senats, verweist darauf, dass die Initiative sich nicht an den rechtlich vorgegebenen Ablauf gehalten habe. Damit Volksbegehren auf Bezirksebene verbindlich werden, „bedarf es einer Verfassungsänderung sowie einer Änderung vom Bezirksverwaltungsgesetz“. Und dafür müsse ein konkreter Gesetzesänderungsvorschlag zur Abstimmung gestellt werden.
„Dies ist aber nicht der Fall, daher umgeht die Volksinitiative die dafür vorgesehenen Anforderungen“, sagt Schweitzer. Der Senat sei in diesen Fällen rechtlich verpflichtet, zum Verfassungsgericht zu gehen, wenn er Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit habe. Nach Krolls Ansicht wiederum ist eine Verfassungsänderung gar nicht notwendig.
Verstoß gegen das Demokratieprinzip?
Auch betont der Senat in seiner Klageschrift, dass die Initiative gegen das Demokratieprinzip verstoße. Würde der demokratisch gewählte Senat keine Macht mehr über die ihm untergeordnete bezirkliche Verwaltung ausüben dürfen, könne er laut der Klageschrift seine „parlamentarische Verantwortung“ nicht mehr sicherstellen.
Aus Sicht der Initiative würde aber gerade die Volksgesetzgebung für mehr Demokratie sorgen. Ohnehin liege der zentrale Konflikt in der Frage, wie groß der direktdemokratische Einfluss in der Stadt sein solle, so Kroll. Der Senat wolle ihn möglichst gering halten.
Anfang 2020 überreichte die Initiative mehr als 14.000 Unterschriften im Rathaus – damit war die erste Hürde bis zum Volksentscheid geschafft. Der nächste Schritt im Rahmen der Volksgesetzgebung wäre nun das Volksbegehren, gegen das der Senat vor dem Verfassungsgericht vorgeht.
Volksentscheide häufig verfassungswidrig
Mit dem Begehren würde die Bürgerschaft verpflichtet, die Forderungen der Initiative zu übernehmen. Dafür braucht sie zuvor 50.000 Unterschriften. Übernimmt die Bürgerschaft ein erfolgreiches Volksbegehren nicht, kommt es danach zum Volksentscheid.
Dass das Hamburgische Verfassungsgericht Volksinitiativen verbietet, ist nicht gänzlich ungewöhnlich. Ende letzten Jahres erklärte es eine Initiative zur Streichung der Schuldenbremse für verfassungswidrig. Bereits im Mai 2019 hatte das Gericht ebenfalls auf Antrag des Senats die Volksinitiative für mehr Personal in Krankenhäusern gestoppt.
Nach der Anhörung am Dienstag wird ein Urteil im kommenden Februar erwartet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner