Volksentscheid „Autofrei“ in Berlin: Mehr radikal als realistisch
Eine Initiative will Berlin per Entscheid „autofrei“ machen. Das leuchtet auf den ersten Blick ein. Auf den zweiten ist es komplizierter als gedacht.
W ir leben in Zeiten großer Weichenstellungen. Diesen pathetischen Satz kann man auf vieles anwenden. Er passt aber auch ganz gut zur Frage, welche Rolle künftig das Auto in unseren Gesellschaften und vor allem Städten spielen wird, nein: darf. Während die Hersteller immer größere Straßenpanzer in den Markt drücken, wurde gerade in Frankreich – dies mal als kleiner Blick über den Tellerrand – gerade eine schmerzhafte Sondersteuer auf besonders schwere SUVs beschlossen.
In Berlin will nun eine Initiative das, pardon, ganz große Rad drehen: Sie stellte am Mittwoch ihre Pläne vor, die Innenstadt innerhalb von weniger als zehn Jahren „autofrei“ zu machen. Und nicht für einen wohlklingenden Appell sollen die BürgerInnen ab dem Frühjahr unterschreiben (und irgendwann womöglich an die Urnen gehen), sondern für einen knallharten Gesetzentwurf.
Wobei der so knallhart aber nicht ausfallen wird. Busse, Laster und Müllwagen, Taxis, Transporter und Krankenwagen sowie eine Vielzahl von mit guten Gründen befreite private Kfz würden weiterrollen. Und zwar, das ist reine Logik, deutlich mehr als heute. Denn nicht nur müsste der öffentliche Nahverkehr massiv ausgebaut werden; auch für Lieferdienste würden wohl goldene Zeiten anbrechen.
Um mal ganz frech ein Argument der CDU ins Feld zu führen: „Welche Verwaltung soll den Ansturm auf Sondergenehmigungen bewältigen?“ Klingt kleinmütig, ist deshalb aber nicht falsch. Auch sonst würde ein solcher Schritt einen schier endlosen Rattenschwanz an Folgeproblemen hinter sich herziehen. Insbesondere verlagerten sich viele Probleme in den Bereich außerhalb des Rings, wo im Gegensatz zum Volksglauben weit mehr als zwei Drittel der BerlinerInnen wohnen.
Viel realistischer sind da die längst diskutierten Maßnahmen einer City-Maut, des Verbots von Verbrennungsmotoren, der massiven Ausweitung von Tempo 30 und der Einrichtung von Kiezblöcken. Das denken auch die allermeisten grünen PolitikerInnen, Kritik an „Berlin autofrei“ kam ihnen aber – abgesehen von „juristisch hochkomplex, bedarf gründlicher Prüfung“ – nicht über die Lippen.
Wie es wird, wenn die Kampagne für den Volksentscheid mit dem nächsten Wahlkampf zusammenfällt? Auf jeden Fall spannend!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit