Völkerrechtler über Taliban-Regierung: „Pragmatische Anerkennung denkbar“
Wie soll Deutschland mit den neuen Machthabern in Afghanistan umgehen? Völkerrechtler Matthias Hartwig über Möglichkeiten und Grenzen der Diplomatie.
taz: Herr Hartwig, die Taliban drängen auf eine völkerrechtliche Anerkennung als Regierung Afghanistans. Können sie damit rechnen?
Matthias Hartwig: Die meisten Staaten verzichten auf die ausdrückliche völkerrechtliche Anerkennung von Regierungen, wenn ein Staat bereits besteht wie in Afghanistan. Eine ausdrückliche Anerkennung wird nur bei einem neuen Staat, etwa dem Kosovo, ausgesprochen.
Gilt das auch für die deutsche Außenpolitik?
Auch das deutsche Außenministerium erklärt: „Die Bundesregierung anerkennt Staaten, nicht Regierungen.“ In der Praxis ist die Anerkennung einer Regierung durch andere Staaten bisweilen aber doch wichtig.
Was hätten die Taliban von einer Anerkennung?
Sie könnten zum Beispiel auf die eingefrorenen Devisen-Reserven Afghanistans zugreifen, sie könnten Botschafter entsenden und sie könnten Verträge mit anderen Staaten schließen, zum Beispiel über Entwicklungszusammenarbeit.
Von wie vielen Staaten wurden die Taliban bereits als Regierung anerkannt?
Von keinem einzigen Staat.
Woran erkennt man, ob zum Beispiel Deutschland die Taliban faktisch als Regierung anerkennt?
Ein wichtiges Signal wäre, wenn ein Entsandter der Taliban-Regierung in Deutschland als afghanischer Botschafter akzeptiert würde.
Wer entscheidet das?
Ein designierter Botschafter braucht ein „Agrément“ – eine Zustimmung -, um in Deutschland sein Amt auszuüben. Dieses Agrément erteilt der Bundespräsident auf Empfehlung des Außenministers.
Auch wenn das deutsche Außenministerium anderes behauptet: faktisch scheint es ja schon so etwas zu geben, wie die Anerkennung von Regierungen?
Die Diplomatie liebt die Mehrdeutigkeit, denn sie verschafft Handlungsoptionen.
Wäre auch die Wiedereröffnung der deutschen Botschaft in Kabul eine Anerkennung der Taliban?
Nicht automatisch. Russland lässt seine Botschaft in Kabul weiterarbeiten, erkennt die Taliban aber noch nicht an.
Wären direkte Gespräche der Bundesregierung mit den Taliban eine Anerkennung als Regierung?
Nein. Es gibt derzeit durchaus bereits Gespräche. Botschafter Markus Potzel führt sie in Doha, der Hauptstadt von Katar, mit dem dort angesiedelten Politischen Büro der Taliban.
Wären Geldzahlungen an die Taliban eine faktische Anerkennung als Regierung?
Auch hier besteht kein Automatismus. Die Bundesregierung hat bereits Gelder für humanitäre Hilfe zugesagt. Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit sind jedoch ausgesetzt.
65, ist promovierter Jurist und arbeitet als leitender Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.
Was ist in der Praxis Voraussetzung für die Anerkennung einer Regierung?
Meist spielt die Anerkennung eine Rolle, wenn es zwei oder mehr konkurrierende Regierungen gibt. Dann kommt es vor allem darauf an, welche Seite sich durchsetzt und die faktische Kontrolle im Land übernimmt. Ursache der Konstellation kann ein Bürgerkrieg sein, ein Putsch oder ein umstrittener Wahlausgang mit Manipulationsvorwürfen.
Im Fall Afghanistan ist die Lage aber eindeutig. Die Taliban haben sich landesweit durchgesetzt, die alte Regierung von Aschraf Ghani ist geflohen und sieht sich auch nicht mehr als legitime Vertretung Afghanistans.
Worauf kommt es bei der Anerkennung der Taliban dann an?
Das können die Staaten nach eigenem politischen Ermessen entscheiden. Die Bundesregierung hat als Voraussetzung für einen Neustart der Entwicklungszusammenarbeit konkrete Bedingungen aufgestellt: dass Frauen- und Menschenrechte geachtet werden, dass eine inklusive – also breit verankerte – Regierung gebildet wird, dass die Taliban humanitäre Hilfslieferungen ermöglichen und dass Afghanistan nicht zu einem neuen Hort des Terrorismus wird.
Wird die Taliban-Regierung früher oder später doch anerkannt, auch wenn sie nicht die Bedingungen erfüllt?
Im Moment sind die Bedingungen sicher ein Versuch, Druck auf die Taliban auszuüben, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Falls dies scheitert, ist eine Anerkennung aus pragmatischen Gründen dennoch denkbar. Auch die menschenrechts-feindlichen Regierungen von Nordkorea und Saudi-Arabien werden ja weltweit als Verhandlungspartner akzeptiert.
Allerdings sind die Taliban in ihrer ersten Herrschaftsphase von 1996 bis 2001 nur von drei Staaten als Regierung Afghanistans anerkannt worden. Das waren damals Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Orientieren sich die Staaten bei der Anerkennung an der UNO?
Das können sie, müssen es aber nicht. Die Taliban wollten Ende September für Afghanistan auf der UN-Generalversammlung sprechen, durften es aber noch nicht. Der zuständige Ausschuss, dem neun Staaten angehören (USA, Russland, China, Schweden, Namibia, Bahamas, Bhutan, Sierra Leone, Chile), hat die Entscheidung verschoben. Auch die neue Militärjunta von Myanmar wurde in diesem Jahr noch nicht als Vertretung des Landes zugelassen.
Entscheidet Deutschland souverän über die Anerkennung der Taliban oder fällt die Entscheidung auf Ebene der europäischen Union?
Es ist zwar politisch sinnvoll, sich auf EU-Ebene abzusprechen. Die Außenpolitik ist aber nicht harmonisiert. Letztlich entscheidet jeder EU-Staat für sich.
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