Virusexperte über Corona-Gefahr: „Wir unterschätzen die Verbreitung“
Die Zahl der Neu-Infizierten könnte bald rückläufig sein, sagt der Epidemiologe Ian Lipkin. Er selbst befindet sich derzeit in Quarantäne.
taz: Herr Lipkin, wann, glauben Sie, wird der Virusausbruch in China seinen Höhepunkt erreicht haben?
Ian Lipkin: Es gibt zwei Zeitpunkte, die wir beachten müssen: Diese Woche werden die meisten Leute in China wieder arbeiten gehen und rund eine Woche später die meisten Schulen wieder öffnen. Wenn man nun noch die Inkubationszeit des Erregers hinzurechnet, die rund sieben Tage beträgt, dann landen wir bei Ende Februar als Höhepunkt. Ab dann sollten wir eine dramatische Reduzierung der Infizierten in China beobachten können – vorausgesetzt, die Maßnahmen hier waren effektiv.
Die chinesische Regierung hat es also selbst in der Hand?
Zum Großteil: ja. Allerdings spielt auch das Klima eine Rolle. Wir wissen von Grippen, dass die menschlichen Tröpfchen, die wir aussondern, bei höherer Luftfeuchtigkeit und Temperatur schwerer werden. Das bedeutet, dass sie nicht mehr so weit in der Luft getragen werden und sich so die Ansteckungsgefahr räumlich verringert. Gleichzeitig verbringen die Leute mehr Zeit im Freien, atmen also nicht die gleiche Luft in geschlossenen Räumen. Sollten wir also einen frühen Frühling erleben, würde dies einen deutlichen Unterschied machen.
Die Todesrate in Wuhan und Hubei ist deutlich höher als in anderen Provinzen. Was ist der Grund?
Das wissen wir noch nicht. Es gibt zwei mögliche Erklärungen. Zum einen kann sich das Virus verändert haben und innerhalb der Quarantäne-Gebiete pathogener, also stärker krankheitserregend, sein als außerhalb, oder es gibt Unterschiede innerhalb der Bevölkerung. Beide Erklärungen halte ich für unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist, dass es Unterschiede bei der Behandlung gibt. Wer eine ordentliche medizinische Betreuung bekommt – etwa auch künstliche Beatmung –, der kommt mit höherer Wahrscheinlichkeit durch. Das versucht die chinesische Regierung in den Griff zu bekommen, indem sie mehr Personal in die betroffenen Gebiete schickt. Allerdings ist es schwierig, weil das natürlich nicht viele freiwillig machen. Aber es gibt solche Freiwilligen.
ist Leiter des Zentrums für Infektionen und Impfstoffe an der Columbia University in den USA. Lipkin hatte die chinesische Regierung und die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits während der Sars-Pandemie vor 17 Jahren beraten.
Die Anzahl der Toten steigt nach wie vor deutlich. Würde es Sinn ergeben, die Wiederaufnahme der Arbeit in China weiter zu schieben?
Tatsächlich geht die Anzahl von Neuinfektionen langsam zurück, und die Methoden zur Erfassung der Angesteckten werden erfolgreicher. Das ist schon mal ein deutliches Zeichen. Sie müssen bedenken: Derzeit ist das öffentliche Leben in Peking und praktisch ganz China stillgelegt, was vor allem wirtschaftliche Einbußen mit sich bringt. Die Leute versuchen nun, eine Balance zu finden zwischen diesen zwei Aspekten. Natürlich gibt es da keinen perfekten Mittelweg. Sollte es jedoch einen raschen Anstieg geben, nachdem die Leute wieder anfangen zu arbeiten, dann sollten wir einen anderen Weg einschlagen. Und ich vertraue der chinesischen Regierung, dass sie das dann auch tun wird.
Die Massenquarantäne ist einmalig in der Menschheitsgeschichte, über 60 Millionen sind in China isoliert. Wie können wir überhaupt wissen, ob diese Strategie erfolgreich ist?
Ich glaube nicht, dass man das überhaupt wissen kann, weil es schlicht keine Kontrollgruppe gibt. Die Motivation hinter der Entscheidung der chinesischen Regierung verstehe ich, vor allem weil es am Anfang keine guten Screening-Maßnahmen gab. Aber die interessantere Frage ist doch eigentlich: Was wäre passiert, wenn man früher eingegriffen hätte? Ich bin überzeugt, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Das Virus hat sich nämlich eine ganze Weile ausgebreitet, ohne dass die Leute von dessen Existenz wussten. Laut meinem Verständnis war das ein Kommunikationsproblem zwischen der Provinz- und der Zentralregierung.
Die KP hat lange verbreiten lassen, nur ältere Menschen mit Vorerkrankungen sterben an dem Virus. Das berühmteste Opfer – der Arzt Li Wenliang – war 33. Müssen sich alle Altersschichten sorgen?
Alte Leute sind anfälliger, weil sie in aller Regel auf das Virus eine schwächere Immunabwehr herausbilden. Wieso es doch auch jüngere Leute tödlich trifft: Viele der Opfer könnten möglicherweise Vorerkrankungen haben, von denen wir bislang nichts wissen. Dass speziell Doktor Li gestorben ist, mag auch damit zu tun haben, dass die Mediziner vor Ort körperlich erschöpft sind von der massiven Arbeitslast. Möglicherweise ist auch die Viruslast, die Mediziner in den Krankenhäusern abgekommen haben, größer.
Bei Sars war die Sterblichkeitsrate gegen Ende der Epidemie deutlich höher als noch am Anfang. Sie behaupten, dass es diesmal anders sein wird. Wieso?
Es geht dabei um die scheinbare Sterblichkeitsrate. Derzeit unterschätzen wir nämlich die Verbreitung der Infektionen. Denn es gibt auch Leute mit milden Symptomen, die nicht unter den bestätigten Fällen geführt werden. Sobald wir jedoch in Zukunft Antikörpertests verwenden, werden wir herausfinden, dass die Anzahl von Ansteckungen wesentlich höher war. Ich glaube, dass die Sterblichkeitsrate, die derzeit bei etwa zwei Prozent liegt, am Ende auf deutlich unter ein Prozent sinken wird. Wir können aber nicht ausschließen, dass es anders kommt. Viren können sich an den menschlichen Körper anpassen – und entweder pathogener oder weniger pathogen werden. Das wird sich nur rückblickend rekonstruieren lassen.
Ist die mediale Aufregung rund um das Virus übertrieben?
Natürlich ist die Ausbreitung des Coronavirus eine Tragödie. Aber die große Sorge hängt auch damit zusammen, dass es sich um einen neuen Erreger handelt. Da das Virus stark übertragbar scheint, werden wir es wohl auch wiederkehren sehen – im Gegensatz zu Sars, das bislang nicht noch mal aufgetreten ist. Das ist ein vernünftiger Grund, auch in Zukunft nach Impfstoffen zu forschen.
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