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Vigdis Hjorth über ihren neuen Roman„Sie rennt gegen ein Problem an“

Vigdis Hjorth reflektiert im Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ das Verhältnis von Realität und Fiktion. Hinzu kommt ein norwegisches Kriegstrauma.

Wuchtiges Geschöpf: In Vigdis Hjorths neuem Roman wird der Geweih-Abwurf eines Elchs zur Allegorie Foto: imago/David Klöcker Ehrenstrahl
Interview von Petra Schellen

taz: Frau Hjorth, was hat Ihr neuer Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ mit Ihrem Leben zu tun?

Vigdis Hjorth: Ach, ich mag den Begriff „autofiktional“ nicht. Natürlich hat alles, was ich schreibe, mit meinem Leben zu tun, weil ich meine persönlichen Erfahrungen nutze. Aber ich schreibe immer Romane, seit 40 Jahren. Mich interessiert die Transformation von sogenannter Realität in Fiktion.

Aber Ihr Roman „Arv og Miljø“ (Erbe und Umwelt) über den Missbrauch eines Mädchens durch den Vater wurde für bare Münze genommen. Ihre Schwester hat sogar einen „Gegen-Roman“ verfasst.

Ja. Aber meine Schwester hat das Buch nicht so gelesen, wie sie hätte sollen, sie hat das Genre „Roman“ missverstanden. Sie hat in Interviews gesagt: „Dieses Buch handelt von unserer Familie. Aber wir sind nicht so.“ Das ist ein Paradoxon. Sie bestehen darauf, dass ich über sie geschrieben habe, aber sie kritisieren, wie ich sie darstelle. Ich habe ihnen gesagt: „Ich schreibe nicht über euch.“ Aber ich habe den Eindruck, sie suchen nach sich selbst.

Und doch ist solch ein Konflikt Thema Ihres neuen Buchs, aus dem Sie jetzt lesen. Nur, dass die Protagonistin hier eine Künstlerin ist, die wegen eines unvorteilhaften Familienporträts in Ungnade fiel.

Ja. Und indem ich aus der Protagonistin eine Malerin mache, kann ich in diese Diskussion über das Verhältnis zwischen Kunst und „Realität“ gehen. Ich kann das durchspielen in Johannas innerem Monolog. Aber das Buch ist keine Reaktion auf den Konflikt um meinen vorigen Roman, sondern eine generelle Reflexion.

In der die nach 30 Jahren heimgekehrte Johanna nicht akzeptiert, dass die Mutter keinen Kontakt will. Johanna will das erzwingen. Warum?

Sie ist besessen. Denn man ist besonders hungrig nach genau der Information, von der man abgeschnitten ist. Wenn die Mutter ans Telefon gegangen wäre, wenn sie geredet hätten, wäre Johanna nicht so besessen. Aber da sie die Mutter nicht treffen kann, erfindet sie sie. Das tun Menschen oft, wenn sie keine Information über jemand Wichtiges haben.

Wie zum Beispiel?

In vielen Familien gibt es einen Onkel Knut, eine Tante Ann, die nie zu Familienfeiern eingeladen werden. Wenn ein Kind fragt: „Warum kommen sie eigentlich nie?“, hört es irgendwelche Geschichten, die die Abwesenheit dieser Personen rechtfertigen sollen. Dann ist Tante Ann eine Alkoholikerin, Onkel Knut ein Herumtreiber und so weiter. Diese Geschichten verfestigen derart, dass es schwer ist, sich nach Jahren zu öffnen, um herauszufinden, dass Tante und Onkel eigentlich nette Leute sind. Genau solche Geschichten erfindet Johanna über ihre Mutter. Denn wichtige Menschen hören nicht auf zu existieren, nur, weil wir nichts über sie wissen. Der norwegische Titel des Buchs lautet „Er mor død“– „Ist Mutter tot“. Die Antwort: Nein, eine Mutter kann nicht sterben. Sie lebt in dir. Und wenn du sie nicht treffen kannst, erfindest du sie eben.

Warum ist Johanna so erpicht auf den Dialog?

Sie glaubt, dass die Mutter einen schwelenden Kindheitsschmerz hat, der durch ein Gespräch getilgt werden kann. Während ihrer 30-jährigen Abwesenheit hat sich Johanna nicht dafür interessiert, aber jetzt will sie die Mutter anrufen und erfahren, was damals passierte. Aber die Mutter will nicht und denkt, dass Johanna nach all den Jahren nicht in der Position ist, etwas zu fordern.

Repräsentiert Johannas Mutter eine im Krieg geborene Generation von Frauen?

Ja, vielleicht. Diese Frauen hatten keine Ausbildung, waren finanziell abhängig vom Ehemann, hatten nicht die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen. Und auch wenn sich viele freuten über die Freiheiten und Karrieren ihrer Töchter, hat es sicher auch Bitterkeit und Neid gegeben. Die Mutter der Malerin Johanna zum Beispiel war selbst eine begabte Zeichnerin. Aber sie konnte es nicht ausleben.

Bild: Agnete Brun/S.Fischer
Im Interview: Vilgdis Hjorth

Vigdis Hjorth

64, lebt in Norwegen, schreibt Kinder-, Jugend- und Erwachsenenromane sowie Essays. „Die Wahrheiten meiner Mutter“, übersetzt von Gabriele Haefs, 400 S.,24 Euro.

Wie wuchs Johannas Mutter auf?

Ihr Vater war ein „Krigsseileren“, ein „Kriegsmatrose“. Das waren über 30.000 Matrosen norwegischer Handelsschiffe, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, schon bevor Deutschland Norwegen im April 1940 besetzte, von der norwegischen Exilregierung Knall auf Fall gezwungen wurden, für die Alliierten Waren zu transportieren. Ohne militärische Ausbildung und Ausrüstung waren diese Matrosen ein leichtes Ziel für deutsche U-Boote. Mindestens 4.000 von ihnen starben. Und die schwer traumatisierten Heimkehrer bekamen nach 1945 weder medizinische noch finanzielle Hilfe vom Staat. Viele wurden Alkoholiker, waren arbeitsunfähig. In den Nachkriegsjahren sah man sie überall auf den Straßen. Das ist ein jahrzehntelang unbearbeitetes Trauma der norwegischen Gesellschaft.

Im August 2022 machte Gunnar Vikene mit seinem auf authentischen Berichten basierenden Filmdrama „Krigsseileren“ das Thema erstmals breiter bekannt.

Ja, und erst vor kurzem hat der norwegische König öffentlich gesagt: „Es tut uns leid, wie wir euch bei eurer Heimkehr behandelt haben. Wir haben eure Traumata nicht ernst genommen.“ Der Vater von Johannas Mutter im Roman war einer von ihnen. Deshalb wuchs die Mutter bei ihrem Onkel und ihrer Tante in einer kühlen Atmosphäre auf. Der Ehemann hat sie aus der Armut herausgeholt, aber sie fühlte sich gefangen, hat sich heimlich die Arme geritzt. Über all das möchte Johanna reden. Aber es ist zu spät.

Wussten Sie von Anfang an, dass der Roman unversöhnt enden würde?

Die Lesung

Nächste Lesungen mit Vigdis Hjorth: 26.10., 20.30 Uhr, Berlin, Pfefferbergtheater, mit Anna Thalbach. Sowie 27.10., 19 Uhr, Zürich, Karl der Große

Nein. Romanfiguren verselbstständigen sich ja mit der Zeit, und anfangs wusste ich nicht, dass Johanna der Mutter nicht nur auflauern, sondern auch physisch in deren Wohnung eindringen würde. Dass sie so verrückt sein würde.

Und dann ist da noch der Elch, den Johanna beim Abstoßen seines Geweihs beobachtet. Ein brutaler Vorgang.

In der Tat werfen Elche jeden Herbst ihr Geweih ab, um Gewicht zu verlieren und Energie für den harten Winter zu sparen. Der Vorgang selbst wirkt unglaublich gewalttätig. Der Elch rammt das Geweih immer wieder hart gegen einen Baum. Es wirkt, als kämpfe er mit sich selbst, es fließt Blut. Aber dann, plötzlich, ist er befreit und stapft friedlich in den Wald.

Was fasziniert Johanna daran?

Ich glaube, sie identifiziert sich mit dieser Gewalttätigkeit und Wildheit. Auch sie rennt ja mit dem Kopf gegen ein Problem. Vielleicht wünscht sie, auch sie könnte loswerden, wovon sie besessen ist. Denn das gelingt ihr nur zum Teil. Immerhin begräbt sie eine Kiste mit alten Zeichnungen ihrer Mutter im Wald.

Aber die Wunde ist noch da.

Ja. Aber sie hat ihr Bestes versucht. Ich denke, sie hat resigniert und den Nicht-Dialog akzeptiert. Sie hofft nicht mehr, und das befreit. Denn es ist anstrengend, immer wieder an eine verschlossene Tür zu klopfen und immer aufs Neue enttäuscht zu werden, weil niemand öffnet.

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