Norwegens Last mit der Vergangenheit: Die gebrannten Kinder der Soldaten

Kinder norwegischer Mütter und deutscher Soldaten wurden diskriminiert. Eine Entschuldigung erhielten sie nie. Jetzt löst sich ihr Verein auf.

Alte Frau mit kurzen Haaren und alter Mann mit Schnäuzer

Gerd Andersen (links) und Björn Lengfelder Foto: Christina Schmidt

OSLO taz | In den Unterlagen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zählt Gerd Synnøve Andersen zu Gruppe eins, so wie sechs andere. Es gibt auch noch eine Gruppe zwei und drei, sie betrifft Menschen, die nicht ganz so furchtbar drangsaliert worden sind wie die Einser. Die hat man als Kinder zu Schweinen in den Stall gesperrt. Sie wurden von Lehrern, Nachbarn und Psychologen Abschaum genannt. Sie sind geschlagen und zum Beispiel mit einem Bügeleisen verbrannt worden. Manche von ihnen wuchsen in Irrenanstalten auf, und das nicht etwa, weil sie eine Behandlung benötigt hätten.

Gerd Synnøve Andersen und die anderen in der Gerichtsakte Genannten ist gemein, dass ihre Mütter Norwegerinnen waren, die Väter aber Deutsche. Und Besatzer. Sie sind Kinder des Zweiten Weltkrieges.

Das Mädchen Gerd, über das in den Akten steht, dass sie wieder und wieder mit brühend heißem Wasser übergossen wurde, um sie reinzuwaschen, ist heute eine alte Frau. Ihre Haare hat sie zu grauen Stoppeln rasiert, ungenau, seit Jahren schon, als hätte sie sich dafür entschieden, das Frausein sein zu lassen. Glitzernde Pailletten auf dem gelben Oberteil. Graue Jogginghose. Als sich Andersen in den weißen Kastenwagen hievt, küsst Bjørn Lengfelder sie auf die Stirn. Er tritt aufs Gaspedal, entfernt sich von den grauen Blocks in Sarpsborg an der Peripherie des Osloer Vorstadtsaumes. Heute soll Gerd einen schönen Tag haben.

Der Verein

Andersen und Lengfelder wirken wie Freunde, sind es aber nicht. Er ist 76 Jahre alt und sie 73. Manchmal bringt er sie zum Lachen. Sie klingt dann, als hätte sie einen dreckigen Witz gehört. Andersen und Lengfelder kennen sich überhaupt nur wegen ihrer Väter und weil sie in einem Land aufgewachsen sind, dass Kinder wie sie verachtete. Sie sind Teil des nationalsozialistischen Lebensborn-Programms, einem Verein der Nazis. Heinrich Himmlers Projekt, um die arischen Rasse zu verbreiten. Zwischen 8.000 und 10.000 Lebensbornkinder sollen insgesamt in Norwegen geboren worden sein.

Einige hundert von ihnen haben sich vor langer Zeit in einem Verein zusammengeschlossen. Weil sie eine Entschuldigung erwarten, von denjenigen, die sie als Kinder eingeschlossen, geschlagen, missbraucht haben: Lehrern, Ärzten, Eltern, Nachbarn. Und vom norwegischen Staat. Doch der ließ sich Zeit, als wartete man ab, dass sich das Problem von alleine erledigt.

Wird es ja auch bald. Die Kinder der Deutschen werden alt. Und deshalb immer weniger.

Gerd Andersen

„Womit habe ich das verdient? Hab ich das vielleicht verdient? Ich bin ein Kind der Schande“

In Deutschland hieß Lebensborn: Ledige Frauen, die Kinder von SS-Männern erwarteten, wurden anonyme Geburten angeboten, ihre Kinder in Adoptionsfamilien vermittelt Kinder aus eroberten Gebieten wurden verschleppt. In Norwegen gingen die Nazis weniger strategisch vor. Einer der ersten Fälle wurde im Sommer 1940 bekannt – eine Norwegerin, schwanger von einem Soldaten. Die Wehrmacht musste sich damit befassen, um eventuelle Vaterschaftsklagen abzuwenden. Da erkannten die Deutschen die Gelegenheit: „Rassereine“ nordische Frauen und ihre Kinder sollten in das deutsche Volk integriert werden. Also begannen die Deutschen in Norwegen Geburtsheime einzurichten und Unterhalt zu zahlten, wenn die Väter an der Front waren.

Die Besatzung Norwegens dauert vom Frühjahr 1940 bis zum Zusammenbruch des Nazi- Reichs fünf Jahre später an. Hunderttausende Wehrmachtsoldaten waren in diesem Zeitraum im besetzten Norwegen stationiert, um die See- und Landgrenzen gegen die Kriegsgegner abzusichern. An manchen Orten lebten die Deutschen so lange, dass sie in Privathäusern einquartiert wurden und ein ziviles Leben genossen.

Nach dem Krieg versuchten die Norweger, die Zeit der Besatzung aufzuarbeiten, diejenigen zu finden, die ihr Land verraten hatten. In offiziellen Strafgerichtsprozessen – und auf der Straße. Frauen berichteten von Übergriffen, bei denen ihnen Männer die Haare schoren, ausrissen. Sie verloren ihre Arbeit. Vor allem in den ersten Wochen nach Kriegsende wurden sie verhaftet und interniert, weil sie sich mit deutschen Männern eingelassen hatten.

Wer ist zuständig?

Der Staat bemühte sich zu klären, wer für die Kinder der deutschen Soldaten zuständig ist: Norwegen oder der Trümmerhaufen des Deutschen Reichs? Eine eigens eingerichtete Kommission kam zu dem Schluss: Norwegen. Trotzdem verloren manche Kinder die norwegische Staatsbürgerschaft, zeitweise wurde erwogen, sie nach Deutschland abzuschieben, dann verhandelt, sie allesamt nach Australien zu verschiffen. Die Kinder der Deutschen galten als defekt, erblich belastet und gestört, das sagten Ärzte, Psychologen, Journalisten öffentlich – und genauso.

Bjørn Lengfelder und Gerd Andersen sind in der Altstadt Fredriksstads angekommen. Es ist ein Sonnabend, Händler haben Stände mit Trödel vor den Häusern aufgebaut, die aussehen wie Kulissen eines Heimatfilms. Gerd Andersen läuft wie zusammengesackt und so langsam, als müsste sie es sich abringen, überhaupt vorwärts zu gehen. Nur einmal bleibt sie vor einer Puppe stehen. Ein altmodisches Modell in einem Rüschenkleid. Ob sie ihr gefällt? „Hm“, brummt sie fragend und antwortend zugleich und geht dann weiter. Lengfelder begrüßt Passanten, umarmt Bekannte. Den kennt er aus dem Eisenbahnmuseum, sagt er, den anderen von Konzertabenden, die sie gemeinsam veranstalten. Und dann sind da auch noch seine Buchprojekte, die Malerei, der Spielfilm und der syrische Vermieter, deren Familie er bei Behördengängen hilft. Bjørn Lengfelder hat in seinem Leben an 33 Orten gelebt.

Gerd Andersen sagt über ihr Leben: Womit habe ich das verdient? Hab ich das vielleicht verdient? Ich bin ein Kind der Schande.

Bjørn Lengfelder sagt: Ich bin ein Kind der Liebe.

Abgeschoben zu den Bauern, danach ins Heim

Ein Foto, darauf ein junger Mann, blondes gescheiteltes Haar und kurze Uniformhosen, aufgenommen wahrscheinlich 1945 in Italien. „In Erinnerung an deinen Freddi“ steht darunter geschrieben. Bjørn Lengfelders Vater hatte es nach Norwegen geschickt, an die Familie seiner Liebe – Lengfelders Mutter. Er hat ihr einen Verlobungsring geschenkt. Sie hat ihm versprochen, nach dem Krieg nach Deutschland zu kommen.

Der Verein der Deutschenkinder löst sich zum 1. Januar 2018 auf. Immer weniger sind noch am Leben, sie fühlen sich zu alt und zu kraftlos

Dann kommt Bjørn Lengfelder zur Welt. Seine Mutter heiratet einen anderen Mann, einen Norweger, der das Kind des Deutschen nicht um sich haben will. Eines Tages liest die Mutter eine Anzeige in der Zeitung: Junge gesucht, schreibt da ein Bauernpaar. Der kleine Bjørn ist da drei Jahre alt und wird aufs Land geschickt. Er hat Glück, sie sind gut zu ihm, sie wollen ihn sogar adoptieren, aber seine Mutter lehnt ab. Später muss er zu einer anderen Familie ziehen, dann in ein Heim, zurück aufs Land, manchmal lebt er bei seiner Mutter. Bjørn Lengfelder hat eine Nachricht von ihr aufbewahrt, handgeschrieben auf einem Notizzettel, aus den 1970er-Jahren: „Sage nicht, wer dein Vater ist.“

Gerd Synnøve Andersen wächst in einem Heim in Sarpsborg auf, nahe Fredrikstad. Nie darf sie Besuch empfangen, aber wer sollte schon für sie herkommen? Sie geht auf eine Sonderschule. Ihren Vater kennt sie nicht, der Kontakt zur Mutter bricht ab. Sie kennt ihre eigene Geschichte kaum.

In den Akten des Gerichts steht über sie: geboren August 1944. Sie glaubt, die ersten beiden Jahre ihres Lebens in Baracken gelebt zu haben. Später, im Kinderheim, wird sie mit siedend heißem Wasser gewaschen. Nur so seien Kinder wie sie zu säubern, hat die Heimleiterin gesagt. Als Sechstklässlerin wird sie von ihrem Lehrer vergewaltigt. Die Mitschüler sehen zu.

Dann trifft sie Knut. Die braunen Augen so schön, so tief. Nach der Trauung sagt der Pfarrer zur Braut: Eine wie sie sollte besser keine Kinder bekommen.

Erst spät begreifen viele, dass die Kinder Opfer sind

Es ist eine Frage, die sich überall auf der Welt nach einem Krieg stellt, nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich genauso wie später in Kambodscha oder gerade im Nordirak: Was macht ein Land mit den Frauen und Kindern des Feindes? Wie beschützt es sie vor Rache, vor Ausgrenzung? Will es das überhaupt?

Die norwegische Regierung entschied: Deutschland kann sich nicht um die Frauen und Kinder kümmern. Sie stelle auch bald fest, dass sie in Norwegen verfolgt und diskriminiert werden. Trotzdem hat der Staat nie einen Beschluss gefasst darüber, wie den Familien denn geholfen werden könnte.

Erst in den 1980er-Jahren verändert sich der Ton, wie die Norweger über die Frauen und Kinder deutscher Wehrmachtsoldaten sprechen. Erst jetzt begreifen manche sie als Opfer – aber längst nicht alle. Lengfelders Mutter verliert Ende der 1970er-Jahre beinahe ihre Arbeit, als die Vorgesetzten vom Deutschen-Kind hören.

In seiner Neujahrsansprache für das Jahr 1999 sagt der damalige Ministerpräsident Kjell Magne Bondevik: „Im Namen des norwegischen Staates bedaure ich die Diskriminierung und die Ungerechtigkeit, denen die Kriegskinder ausgesetzt waren.“ Das ist wenig. Und doch mehr als alle anderen Politiker davor oder danach hervorbrachten. Immerhin: Bondevik ordnet systematische Untersuchungen der Vorwürfe an.

Nach der Jahrtausendwende wird der erste umfassende Bericht veröffentlicht. Die Ergebnisse: Unter Deutschen-Kindern ist der Anteil an Arbeitsunfähigen im Vergleich zu Gleichaltrigen besonders groß. So wie auch die Armut, die Zahl gescheiterter Ehen. Und die Suizidrate.

Der Staat ist nie eingeschritten

Das ist in etwa die Zeit, in der die ersten Deutschen-Kinder beginnen, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen. So erfährt Gerd Synnøve Andersen, dass es noch mehr Frauen wie sie gibt. So begreift auch Bjørn Lengfelder, dass er Opfer einer Gesellschaft ist, die seine Diskriminierung nicht nur geduldet sondern befördert hat. Es sind Lehrer, Ärzte, Erzieher und sogar Politiker, die sie geächtet haben und zum Teil bis heute ächten. Und der Staat ist nie dagegen eingeschritten.

Bjørn Lengfelder ist 64 Jahre alt, als er erfährt, dass er Teil eines nationalsozialistischen Rasseprogramms war. Nummer 1.025, so ist es in den Akten vermerkt.

Seine Mutter hatte gesagt: Lebensborn hat sich gut um uns gekümmert. Was das heißen sollte, versteht er nicht.

2007 fahren 158 Deutschen-Kinder nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof. Sämtliche norwegischen Gerichte hatten da schon ihre Forderung nach einer finanziellen Entschädigung abgewiesen – die Taten galten als verjährt. Die Kriegskinder argumentieren: Woher sollten wir denn wissen, dass sie nicht von einzelnen sondern von der ganzen Gesellschaft verfolgt wurden? Die Archive, in denen sie darüber hätten forschen können, wurden erst Mitte der 1980er geöffnet – da war es längst zu spät.

Gerd Synnøve Andersen tritt in Straßburg als Opfer auf, legt ihre Geschichte offen. Andere Betroffene haben es nur dieses eine Mal geschafft, von ihrer Kindheit zu erzählen. Bjørn Lengfelder begleitet die Gruppe. Weil er als einer der wenigen deutsch und englisch spricht fungiert als eine Art Pressesprecher. Im Gerichtssaal begreift er, wie klein sein Schmerz als Deutschen-Kind im Vergleich zu anderen doch ist.

„Warum wurde ich geboren?“

Er sagt: Für viele war es bereits eine Art Kompensation, dass man ihnen an so einem Ort zugehört hat.

Die Anwältin der Kriegskinder sagt: Ein früherer Minister, den ich als Zeuge gewinnen wollte, fragte, warum ich mich für solche Leute einsetzen würde.

Die Richter in Straßburg weisen die Klage ab. Auch sie halten die Taten für verjährt.

Statt des Staates zahlen schließlich die Kommunen Entschädigungen. Elend wird in Kronen umgerechnet, einige erhalten umgerechnet 1.000 Euro, andere 20.000 Euro. Gerd Synnøve Andersen erhält fast 80.000 Euro, Höchstsumme. Sie kauft sich davon eine neue Küche. Knut hätte die gefallen, sagt sie. Aber Knut ist tot.

Sie fragt: Warum wurde ich geboren?

Lengfelder pflückt ein Veilchen von der Wiese und steckt es ihr hinter das Ohr.

Lengfelder ist heute eine Art Vormund für Andersen, verwaltet ihr Konto. Manchmal ist er auch ihr Freund, der sie rausholt aus ihrer Wohnung, in der immer der Fernseher läuft. Zusammen fahren sie zu den Treffen des Vereins der Kriegskinder, die Lengfelder Therapie nennt.

Gerade haben die Mitglieder beschlossen, Andersen das Geld für eine Reise nach Kiel zu geben, die sie alle unternehmen wollen, so wie jedes Jahr. Eine gemeinsame Fährfahrt, ein paar Stunden Deutschland, dann schnell wieder zurück. Seit bald zehn Jahren fährt Andersen mit, am Anfang in großer Angst. Heute hält sie jedes Mal eine Rede für die anderen.

Der Verein der Deutschen-Kinder löst sich auf

Auf der gleichen Vereinssitzung fiel aber auch ein Entschluss: Der Verein soll zum 1. Januar 2018 aufgelöst werden. Immer weniger Mitglieder sind überhaupt noch am Leben, sie fühlen sich zu alt und zu kraftlos, um zu kämpfen. Ihre Webseite, ein kleines Archiv norwegischen Wissens über Lebensborn, wollen sie noch fünf Jahre lang weiter betreiben und dann abschalten. Das ungelöste Problem der norwegischen Regierung verschwindet dann von selbst.

Am Abend sitzt Bjørn Lengfelder an einem Plastiktisch vor seiner Erdgeschosswohnung. Er erzählt, wie er seinen Vater zum ersten Mal besucht hat, damals, 1964. Ein Polizeiobermeister, der Kalbslederhandschuhe trug, wenn er Auto fuhr. Wie sie alle gekommen sind, erzählt Bjørn, die Verwandten, die Nachbarn, der jüngere Halbbruder, der ihm so ähnlich sah. Lengfelder erinnert sich an seinen ersten Abend in Bayern wie an ein Fest. Der Vater schenkt ihm ein Band mit deutschen Gedichten, „meinem Björn in Erinnerung an seinen ersten Besuch“, schreibt er dazu und „Dein Vater“. Lengfelder nimmt den Namen des Vaters an. Ein paar Mal noch besuchte er ihn in Deutschland, nach Norwegen kommt der Deutsche nie.

Was hat er so gemacht, damals, bei den Nazis? Keine Ahnung, sagt Lengfelder. Und: Er war ein toller Kerl.

Als der Vater schließlich verstarb, erreichte ihn erst Monate später die Nachricht. Der Halbbruder teilt es ihm mit. Auf einer Postkarte.

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