Viel zu entdecken bei Pop in Indien: Bollywood ist Tollywood
Indi, Hindi und Indie: Ein Streifzug durch die vielfältige und welthaltige indische Popkultur, ihre Eigenheiten, Stars und Talente.
Aus den Radios der Verkäufer:innen am Straßenrand summen immer die Hits. Aber die Hits in den Radios entstehen im Kino wie etwa „Lootmar“ von Asha Bhosle, Melodie aus dem gleichnamigen Retro-Bollywoodstreifen. Bhosle hat auch für viele weitere Filme gesungen. Will ein Film in Indien erfolgreich sein, muss also der Soundtrack stimmen.
Eine Grundregel, die über die vergangenen Jahrzehnte immer wichtiger wurde, gerade in Großstädten wie der 20-Millionen-Metropole Mumbai, die junge Künstler:innen aus dem ganzen Land anzieht. Musik- und Filmindustrie sind in Indien dicht an dicht. Somit verwundert es nicht, dass Popmusik in Indien eng verbunden ist mit dem Hindi-Film um Bollywood, dem südindischen Kino (alias Tollywood und Kollywood), aber stets auch gut vernetzt ist mit dem Popgeschehen in Großbritannien – schon aufgrund der kolonialen Vergangenheit.
Als einer der ersten Popsongs auf dem Subkontinent gilt der Urdu-Hit „Ko Ko Koreena“ von Ahmed Rushdi (1966), der im Nachbarland Pakistan produziert wurde und für heutige Ohren sehr traditionell klingt. Seitdem hat sich allerdings vieles verändert: Die Musik, die das ehemalige „Britisch-Indien“ verband, hat den Sprung von traditionellen Klängen zum Pop gewagt, während die musikalischen Beziehungen zwischen Indien und Pakistan auch aufgrund der politischen Auseinandersetzungen der beiden Nachbarn verblasst sind.
Auf der Suche nach Hits
Auf der Suche nach Hits heuerte die Filmszene in Mumbai junge Talente an. Einst unabhängige Künstler:Innen wanderten dorthin ab. Unter ihnen war Alisha Chinai, Königin des neuen Genres Indipop, die zunächst mit Madonna-Coverversionen begann. Indipop kam in den 1990er Jahren auf und klang anders als die typischen Arrangements mit Tabla-Trommeln und Harmonium: Die Songs waren kürzer und radiotauglicher. Es wurde auf Hindi und Punjabi gesungen und zeitgenössische Sounds von Synthesizern und Drumcomputern flossen in die Musik ein.
Auch der Weg von Mohit Chauhan, der mit der legendären Indi-Band Silk Route bekannt wurde, führte Anfang der nuller Jahre als Playback-Sänger ins wesentlich lukrativere Filmgeschäft. Dabei prägten Chauhans Songs, ähnlich wie die Musik der Folkfusion Band Indian Ocean, ein neues Bewusstsein.
Der Mumbaier Musiker Nikhil Rao, 36, erinnert sich gut daran, dass seinerzeit viele Songs, die von indischen Bands gespielt wurden, Coverversionen aus dem Westen waren. Auf einheimische Musik blickten die hippen Großstädter herab. Es hat Zeit gebraucht, bis indische Künstler zu sich selbst fanden und anfingen, ihre Songtexte in lokalen Sprachen zu schreiben. „Das war ein Teil von Indiens langem Weg der Entkolonialisierung“, erklärt Rao, der 2013 als Gitarrist bei Indian Ocean einstieg.
Lokale Sprachen
In lokalen Dialekten wurde zuvor nur Volks- und Filmmusik gesungen. Indian Ocean war eine der ersten modernen Bands, die indischsprachiger Musik eigenen Charakter verlieh und auch musikalisch mit Klassik, Jazz und Ideen aus dem Sufismus experimentierten. Allmählich entwickelte sich auch eine Rockszene in Indien. 1993 bekam sie mit dem ersten unabhängigen Musikmagazin des Landes, dem Rock Street Journal (RSJ), ein Gesicht. Sein Gründer Amit Saigal rief verschiedene Veranstaltungen ins Leben.
Es war die Zeit, in der alternative Musikfestivals in Mode kamen. Darunter etwa die „India Music Week“ in der Hauptstadt Delhi, die zwischen 2011 und 2013 stattfand. Sie wurde zur Plattform für neue Acts aus ganz Südasien. Bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in Goa prägte Saigal die alternative Musikszene auch als Promoter. In seiner Schaffenszeit wurde auch Satellitenfernsehen in Indien populär, MTV etablierte sich als Musikprogramm. Bereits 1996 eröffnete der TV-Sender als Joint Venture ein Büro im westindischen Mumbai.
Auch dadurch wurde das Genre Indipop groß und promotete sich mit Videoclips. „Damals überholte Folk sogar den Bollywood-Sound“, erklärt Rao. Bereits in den 1990er Jahren gab es viele Künstlerinnen in den Reihen des Indipop, trotzdem wird die indische Musikbranche von Männern dominiert, genau wie auch die Filmmusik. Seit 1931 wurden lediglich drei Musikregisseurinnen für die begehrten „Filmfare Awards“ nominiert. In den letzten Jahren tauchen allerdings immer wieder spannende Künstlerinnen auf. „Auch dank der digitalen Sphäre gibt es nun größere Möglichkeiten, mit dem Publikum in Kontakt zu treten und die Akzeptanz von Künstlerinnen steigt“, sagt Singer-Songwriterin Ditty (alias Aditi Veena), die seit ihrem 14. Lebensjahr auf der Bühne zu Hause ist.
Morgenrot der Indie-Szene
Ditty gehört zu einer neuen indischen Künstler:Innen-Generation, die ihre Musik im Gegensatz zum Mainstream stark vereinfacht hat. „Es fühlt sich an wie das Morgenrot in der Indie-Szene“, sagt Ditty. Im Lockdownjahr 2020 nutzte sie die Zwangspause für ein neues Projekt. „Ich habe ein internationales Künstlerkollektiv namens Faraway Friends zusammengetrommelt, mit dem wir drängende Fragen zur Gesellschaft, der Klimakrise, der Ungleichheit und Gendergerechtigkeit durch Musik thematisieren“, sagt sie.
Für ihre jüngste Kollaboration, das Album „Rain is Coming“, hat Ditty mit dem Rapper Keno (Moop Mama) und dem Produzenten David Raddish zusammengearbeitet, den sie auf einer Reise nach Indien kennengelernt hat. Zusammen klingen sie nach Rap-Fusion mit indischer Volksmusik, die auch durch Dittys zarte Stimme lebendig wirkt. Für Rao ist gerade der grenzüberschreitende künstlerische Austausch das, was Musik spannend macht. Durch neue Technologien gelingt das inzwischen leichter.
Wer in diese bunte Popwelt der zeitgenössischen Sounds in Südasien eintauchen möchte, ist mit dem Blog „Wild City“ bestens bedient. Dort werden aktuelle Debatten in der Szene angestoßen. Bei ihren Clubnächten und dem Blog eigenen Boutique-Musikfestival Magnetic Fields bevorzugt „Wild City“ elektronische Klänge, hat aber auch ein Gespür für neue Talente aller Stilrichtungen. Darunter ist die in Mumbai lebende Sängerin und Komponistin Aditi Ramesh, die bei ihrer 2020 erschienenen Single „Sambar Soul“, inspiriert von Blues und Jazz, aus ihren südindischen Wurzeln schöpft.
Charisma und feiner Pop
Charisma hat auch Kayan, Singer-Songwriterin und Model, die feinen Pop produziert, der ihre indische Herkunft transzendiert. Weitere Musikerinnen sind im Kommen, wie Tarana Marwah alias Komorebi und ihr nostalgischer Sound und die experimentelle Electronica von Sandunes, die 2017 ein tolles Konzert beim Magnetic-Fields-Festival vor Palastkulisse gespielt hat. Genau wie Ditty ist sie Teil der Musik-Plattform „Border Movement“.
Diese fördert auch den Austausch zwischen Südasien und Deutschland. Hinzu kommt Musik aus Übersee: In der ganzen Welt verstreut ist die indische Diaspora, wie etwa Madame Gandhi, die sich einen Namen als Tour-Schlagzeugerin von M.I.A. machte. Oder die Schweizerin Priya Ragu mit sri-lankischen Wurzeln und ihrem tamilisch gefärbten Soul. Oder die inzwischen in Frankreich lebende Goanerin Tracy De Sá, die genau wie die anderen beiden Künstlerinnen sehr kreativ mit Rap- und Trap-Elementen spielt.
Während die Hindi-Musikszene durch Popsongs, Rap und vor allem Punjabi-Sänger geprägt ist, die über die Jahre Beat-Strukturen auch vom karibischen Reggaeton übernommen haben, gibt es anderseits eine wachsende Zahl von indischen Indie-Künstler:Innen, die ihre Karriere mit Songs auf Englisch begonnen haben und dann zu Hindi wechselten. Und so erreichen sie auch ein breites Publikum, in ihrer Heimat, aber nicht nur dort.
Am bekanntesten ist der 31-jährige Prateek Kuhad mit Poprock-Songs. Einer davon landete sogar in der Playlist von Barack Obama! Obwohl deutsche DJs wie Oliver Huntemann und Innellea (Michael Miehting) bereits wieder durch Indien touren, muss auch das Land und somit auch die Musikszene zunächst die Folgen der Coronapandemie verdauen. Die Ticket-Plattform „Skillbox“ legte ihren Fokus schnell auf virtuelle Shows, doch die Einnahmen fielen gering aus.
Jedenfalls gibt es in Indien viel Musik zu entdecken. Pop hat eine große stilistische Spannweite, von englischen Stücken, die nicht leicht zu kategorisieren sind, bis hin zu Songs in den Regionalsprachen Tamil, Telugu, Marathi und Bengali. Genre- und sprachübergreifende Klangexperimente inklusive.
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