piwik no script img

Versäumnisse in der CoronaforschungEs fehlen die Daten

Über ein Jahr schon versetzt uns Covid-19 in den Ausnahmezustand. Viele Fragen hätte die Wissenschaft schon längst beantworten können.

Landwehrkanal in Berlin: Sind Aerosole draußen weniger gefährlich? Foto: Jürgen Held/imago

Berlin taz | Wissenschaft gilt als schärfstes Schwert im Kampf gegen das Coronavirus. Enorme Summen werden in die Impfstoff­forschung gepumpt, um der Pandemie Einhalt zu gebieten. Weniger wird dagegen über die Schattenseite der Heldengeschichte gesprochen: wo Wissenschaft in der Covid-19-Krise scheitert oder erst gar nicht in die Gänge kommt. Das Ausmaß an Wissenschaftsversagen tritt immer deutlicher zutage.

An diesem Mittwoch war es wieder so weit: Forschungsministerin Anja Karliczek trat mit ihrem Kabinettskollegen aus dem Gesundheitsressort Jens Spahn vor die Bundespressekonferenz, um ein neues, 300 Millionen Euro schweres Förderprogramm für die Entwicklung von Coronamedikamenten zu verkünden. Dabei geht es um Patienten, die bereits erkrankt sind und in einer Klinik behandelt werden müssen. Die neuen Arzneimittel sind seit Anfang des Jahres bereits in den klinischen Testphasen I und II geprüft worden. „Ich freue mich, dass wir nun die Forschung und Entwicklung auch auf die finale Testphase und die Herstellungskapazitäten ausdehnen können“, sagte Karliczek. Ziel sei es, dass „damit wirksame und sichere Arzneimittel gegen Covid-19 möglichst rasch bei den Patientinnen und Patienten ankommen“.

Leider müsse damit gerechnet werden, dass selbst bei einer hohen Impfrate Menschen weiter an Covid-19 erkrankten, für die dringend neue Therapieoptionen bereitgestellt werden müssten. Mit dem neuen Programm sollen auch bereits für andere Krankheiten zugelassene Arzneimittel darauf geprüft werden, ob sie gegen Covid-19 wirken.

Das neue BMBF-Programm ist auch eine Reaktion auf die Kritik des Wissenschaftsrats (pdf-Datei), der im Januar bemängelt hatte, dass in Deutschland bei klinischen Studien das „Potenzial für die Verbesserung der Versorgung hierzulande nicht ausgeschöpft wird“. Insbesondere bei Studien zu Wirkstoffen und Therapieverfahren für Covid-19 spiele die universitäre und außeruniversitäre Gesundheitsforschung in Deutschland „jedenfalls zu Beginn der Pandemie keine führende Rolle“, stellte der ­Wissenschaftsrat fest. In anderen europäischen Staaten wie den Niederlanden, Großbritannien und der Schweiz liege die Anzahl öffentlich finanzierter Studien zu Covid-19 deutlich höher.

Wo ist das Infektionsrisiko hoch?

Eine weitere Leerstelle deutscher Forschung zeigte sich beim Auftreten erster Mutanten von SARS-CoV-2. „Gefährliche Mutationen erkennt man nur dann rechtzeitig, wenn man die Virusgenome aus Infizierten durch engmaschige Überwachung (Surveillance) via Komplett-Sequenzierung überprüft“, stellte das Fachmagazin Laborjournal Anfang des Jahres fest. Dies sei „ein Aspekt, der in Deutschland bisher auf fahrlässige Weise vernachlässigt wurde“. Überschrift des Fachartikels: „Deutschland blamabel bei Corona-Sequenzierung“.

Keine Verbesserung gibt es auch auf der epidemiologischen Seite, wo es um die infektiöse Verbreitung des Virus geht. So schreibt das Robert Koch-In­sti­tut (RKI) in einem aktuellen Lagebericht über Covid-19-bedingte Ausbrüche: „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt.“ Betroffen seien insbesondere private Haushalte, aber auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, wird vage mitgeteilt. Warum hat die In­fek­tions­schutz­be­hör­de nach über einem Jahr nicht eine präzisere Sicht auf die Verbreitung?

Auch die Schwachstelle der Datenvernetzung und des Datenmanagements im Gesundheitsbereich, wo es „zahlreiche Mängel“ gebe, hatte der Wissenschaftsrat angeschnitten. So fehle „ein standortübergreifender Zugang zu standardisierten Daten aus medizinischer Forschung und Versorgung“. Als noch gravierender stellt sich mittlerweile die generell unzureichende Erhebung von Daten über die Covid-19-Verbreitung heraus.

„Seit Beginn der Pandemie erleben wir ein Versagen der Fachgesellschaften von der Statistik über die Epidemiologie bis zur Soziologie“, sagt der Datenerhebungsexperte Rainer Schnell von der Universität Duisburg-Essen. Keine wissenschaftliche Organisation habe die, wie er es nennt, „Datenerhebungskatas­trophe“ kritisiert.

„Deutschland läuft englischsprachigen Ländern hinterher“

„Deutschland läuft der Datenerhebungsqualität der englischsprachigen Länder meilenweit hinterher“, ergänzt der Medizinstatistiker Gerd Antes, Mitbegründer des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Am schlimmsten sei, dass es „weder in der Politik noch in der Wissenschaft vielversprechende Anstrengungen gebe, das Empirie-Defizit zu beheben“, wird Antes im Wissenschaftsblog des Berliner Fachjournalisten Jan-Martin Wiarda zitiert: „Da herrscht eine Mischung aus Inkompetenz, Arroganz und Interessenkonflikten.“

Wiarda ist in einer ausführlichen Recherche der Frage nachgegangen, warum es in der deutschen Forschung kein „Corona-Panel“ gibt, das die Verbreitung des Virus repräsentativ misst. „50.000 bis 100.000 Stichprobentests alle ein bis zwei Wochen würden genügen“, so seine Einschätzung. Stattdessen herrsche ein Datenflickwerk, das keine valide Grundlage für politische Entscheidungen von großer Tragweite darstellen könne.

Ein Anlauf des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zusammen mit dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen hatte keinen Erfolg, fand Wiarda heraus. Die Idee war, das Corona-Panel an das wissenschaftliche Datengroßprojekt „NAKO – Nationale Gesundheitskohorte“ anzudocken, bei dem 200.000 Deutsche zwischen 20 und 69 Jahren kontinuierlich Auskunft über Lebensumstände und Krankheitsgeschichte geben. Das Konzept habe auch die Zustimmung des RKI gefunden. Doch das BMBF habe die Bedeutung des Vorhabens nicht erkannt und eine Finanzierung verweigert, kritisieren die Forscher. Als wenig kooperativ habe sich zudem die NAKO-Leitung gezeigt: „Die saßen auf ihrer Studie und wollten nicht teilen.“

Jenseits von Eifersüchteleien verhindert ein gesundheitswissenschaftliches Struk­tur­pro­blem eine Besserung. „Die Pleiten, Pech und Pannen der deutschen Coronapolitik haben eine gemeinsame Ursache“, so Wiardas Analyse. „Das Zusammenspiel von Politik, Administration und Wissenschaft wird nicht funktionieren, solange ‚­Public Health‘ nicht zu einer Leitdisziplin in Deutschland wird.“ Die gesellschaftliche Gesundheitsversorgung ist ein Stiefkind des patientenzentrierten Medizinsystems.

Welchen Weg nimmt das Virus? Unbekannt

Weil weiterhin unbekannt ist, welche Wege das Virus genau nimmt, kommen die politischen Präventionsmaßnahmen vielfach einem Stochern im Nebel gleich. Ganze Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder sozial Benachteiligte fallen mit ihrer besonderen Belastungssituation aus dem Blick. Andere Gruppen wie Schüler und Studierende werden mit ihrem Infektionspotenzial wahrscheinlich falsch eingeschätzt. Das Ergebnis sind „Notbremsen“, die nicht geringen Kollateralschaden produzieren, etwa über die strikten Inzidenzwerte.

Ein Leser des viel kommentierten Wiarda-Blogs schrieb, dass der Frust unter Schulrektoren, Lehrern und Eltern steige. „Bei uns im Landkreis wurden alle Schulen geschlossen, nachdem Infektionen in sechs Betrieben und einer einzigen Kita den Inzidenzwert nach oben katapultiert haben.“ In den ihm bekannten Schulen wurden drei Reihentests die Woche durchgeführt – ohne Funde. Ein Rektor meinte verzweifelt: „Wir testen wie blöde, aber keiner ­interessiert sich für unsere ­Zahlen.“

Bildungspolitische Lang­zeitschäden durch Corona sind ebenfalls ein Forschungsthema. Aber dieses Großexperiment mit zehn Millionen Teilnehmern läuft noch eine Weile.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich habe mich schon vor einem Jahr grün und blau geärgert, dass niemand anlasslose Flächentests macht, um herauszufinden, wie große die Dunkelziffer ist.



    Und dass bis heute niemand in Deutschland ernsthaft herauszufinden versucht hat, wer sich wo wann genau ansteckt.



    Dass die Corona-App am Anfang völlig falsch aufgesetzt wurde mit einem "Datenschutz", der die Daten vor denen schützt, die sie am dringendsten brauch: den Gesundheitsämtern, war bedauerlich. Dass bis jetzt diesen Fehler niemand korrigiert hat, ist unerträglich und skandalös! Was hätten nicht alles für Katastrophen verhindert werden können!

    Und das ist keien Besserwisserei im Sinne von "hinterher ist man immer klüger". Das konnte man auch vor einem Jahr schon erkennen - auch ohne ein Supergenie zu sein.

    Und: es hat sich nichts geändert und das wird es offenbar auch nicht. Das war für mich wirklich die erschreckenste Erkenntnis über unser ach so hochgelobtes tolles Land während dieser Zeit.

  • "Wissenschaftsversagen" - wirklich?

    Innerhalb von wenigen Wochen wurde das Virus erkannt und Tests entwickelt - zum Beispiel an der Charité, die weltweit ganz vorne mit dabei war. Anschließend wurden in Rekordzeit Impfseren entwickelt, getestet, freigegeben und anschließend ebenfalls in Rekordzeit die Herstellung hochgefahren. Wissenschaftsversagen - ist das wirklich Ernst gemeint?

    Dass Amerikaner, Briten und Israelis bei der Auswertung von "Big Data" traditionell besser als die Europäer sind, ist nicht nur bei Corona zu sehen. Das liegt aber halt auch an den Vorgaben, die bei uns Wissenschaftler vor dem Beginn einer Studie erfüllen müssen. (Bis bei uns geklärt ist, wie man eine Studie Datenschutzkonform erstellt, präsentieren diese 3 Länder bereits die Ergebnisse.) Das ist auch ok so, aber man darf sich dann auch nicht darüber beklagen, wenn die Ergebnisse später oder gar nicht kommen!

    Aber auch in den 3 oben genannten Ländern gibt es keine Studie, die belastbar zeigt, wer sich wo angesteckt hat. Dazu gibt es nur in den Ländern mit sehr geringen Infektionszahlen, zum Beispiel Australien, Neuseeland und die meisten asiatischen Staaten, Daten. Diese Daten sind aber, weil wir eine völlig andere Politik gefahren haben, nicht vergleichbar.

    Deutschland ist, gemessen daran, dass man keine Null-Infiziertenpolitik haben wollte, bisher im großen und ganzen gut durch die Pandemie gekommen. Gefehlt hat es dabei nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen, die waren da, sondern an der politischen Umsetzung, insbesondere in den Ländern.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Oftmals hilft der gesunde Menschenverstand. Die Partylöwen haben den hingegen offenbar völlig ausgeschaltet.



    Sie kommen mit einer Verwarnung davon und genau das ist falsch.

  • Ja-und diese Daten fordert z.B. Frau Fischer seit über einem Jahr:



    www.openpetition.d...ubere-corona-daten



    aber sowas ist hier ja ih-ba-ba-querdenkerquatsch

    • @Petterson:

      Im Artikel wird wiedergegeben, welche Fachgesellschaften gern welche Dinge untersuchen würden. Und zwar unter wissenschaftlicher Begleitung (man sagt, was man warum untersuchen will, skizziert die Modelle mit denen man auswerten möchte und benennt den möglichen Erkenntnisgewinn plus noch ein paar andere Randbedingungen)

      In der Petition wird eine Studie gefordert, die aus dem Bauch heraus aufgestellte und auf Youtube geteilte Meinungen bestätigen soll. Und die, zum Zeitpunkt der Erstellung der Petition, nichts weiter im Sinn hatte, als die im letzten Frühjahr notwendigen Maßnahmen zu verzögern.

      Der Vorwurf, den auf Erkenntnisgewinn ausgerichtete Wissenschaftler an die Politik machen, sind doch 2 Dinge



      - ihr habt die Zeit, die der erste Lockdown uns gebracht hat, nicht für weiteren Erkenntnisgewinn genutzt



      - ihr seid in der zweiten und dritten Welle so panisch geworden, dass ihr ohne evidenzbasierte Folgenabschätzung jede irgendwie sinnvoll erscheinende Maßnahme völlig unkoordiniert eingesetzt habt

      Leute wie Bhakdi hätten schon die erste Welle im Chaos enden lassen und ich mag mir gar nicht ausmalen, welchen Mist wir mit solchen Beratern in der zweiten Welle erlebt hätten.

    • @Petterson:

      Dass Daten gebraucht werden, ist völlig richtig. Aber an einer Petition, die Prof. Dr. Bhakdi ganz vorne nennt, der ein anerkannter Corona-Leugner ist, der Unwahrheiten verbreitet, nehme ich nicht teil. Sorry.

  • Freilich kann man den Mangel an Erkenntnissen rückblickend beklagen. Aber in der Tat hätte man vor einem Jahr die richtigen Fragen nicht nur stellen müssen, sondern durchaus auch stellen können. Das kommt halt davon, wenn kein Arzt sondern einen Sparkassendirektor das Amt des Gesundheitsministers bekleidet.

  • Dies ist ein update meines Kommentars vom 25.3.21.



    Früher hängte man einen großen Stadtplan an die Wand und piekte für jeden Fall eine Nadel hinein. Das kann man heute digital. Die Gesundheitsbehörden besitzen laut Gesetz die Adressenlisten (z.B. Excel) aller Infizierten, in der Alter, Geschlecht, Infektionsdatum und wahrscheinlich auch Hinweise auf Infektionsquellen stehen. Sie besitzen die GIS-Software (z.B. ArcGIS wie das RKI), die Listen mit der Adressenkarte (amtlichen Geodaten, OpenStreetMap) zu verknüpfen. Aus der so erzeugten Karte (aller 2 Mio. Fälle in DE) kann mensch den räumlichen und zeitlichen Verlauf ablesen, und daraus schließen, wo und wann und in welcher Altersgruppe die Infektionsherde brodeln. Diese Karte kann mensch über soziografische Karten legen, um Milieus zu identifizieren, die dem Virus gute Bedingungen bieten, und um die Wirkung von Lockdown und dergl. zu verfolgen.



    Vor wenigen Wochen veröffentlichte der NDR eine Karte Hamburgs der stadtteilscharfen Inzidenz, wie sie nur nach der oben beschriebenen Methode gemacht werden konnte. Darüber hätten Politiker und Wissenschaftler seit einem Jahr diskutieren müssen.

  • Selbst bei der Impfstoffforschung gibt es große Lücken:



    * Keine (systematischen, umfassenden, auf dem doppel-Blind-Prinzip im selben Kontext beruhenden) Vergleichstest zwischen verschiedenen Impfstoffen, sondern jeweils Impfstoff gegen Plazebo in unterschiedlichstem Kontext;



    * Keine derartigen Vergleichstests zwischen verschiedenen Impfabständen



    * Keine derartigen Vergleichstests mit verschiedener Impfdosis (Menge je Patient)



    * keine Vergleichstest mit unterschiedlichen Prioritäten (z.B. in Landkreis 1 werden die Alten geimpft, in Landkreis 2 die mit vielen Kontakten im Berufsleben, in Landkreis 3 je eine Person je Familie, in Landkreis 4 jeweils ganze Familien, usw.)



    * keine gezielte Suche nach Nebenwirkungen (neben den auffälligen Sinusvenenthrombosen muss es ja auch andere Verklumpungen von Blutplättchen geben; von regelmäßigen Blutbilduntersuchungen bei ein paar tausend geimpften habe ich noch nichts gelesen).



    usw.

  • Tjo, Frau Karliczek. Die richtigen Fragen zu stellen war schon mal ein guter Ansatz. Aber:

    (a) muss manfrau die richtigen Fragen an die richtigen Leute stellen,



    (b) die Antworten muss manfrau sich auch noch merken.

    • @tomás zerolo:

      So ist es, wenn ein jeder seinen Steckenpferden nachrennen darf. Hauptsache, man haut Publikationen raus.



      Ja, es ist entscheidend, die richtigen Fragen zu stellen. Und dann muss man halt auch Menschen damit beauftragen, nach Antworten zu suchen. Das gehört zur Wissenschaftspolitik hinzu. Und nicht nur "Rahmenbedingungen" zu setzen.