Verreisen an Ostern: Warum ist das so wichtig?
Die Leute sind verrückt nach dem Reisen. Ich kann das nicht verstehen. Liegt es daran, dass das Leben gerade ein bisschen beschissener ist als sonst?
W as wird mit Ostern? Das ist die große Frage, die im Moment täglich und überall gestellt wird. Tja, was soll denn nun mit Ostern werden? Kann es stattfinden oder wird es ausfallen? Was werden „sie“ uns an Ostern überhaupt erlauben? Und je länger ich darüber nachdenke, um so absurder scheinen mir diese Sätze zu sein. Welchen Stellenwert haben diese Dinge? Warum ist die Frage, was mit Ostern wird, so wichtig, dass sie als dicke Überschriften in den Zeitungen auftaucht? Was ist denn dieses Ostern überhaupt? Und warum soll es nicht stattfinden können, wenn wir nicht nach XYZ reisen können?
Wenn ich in meine Kindheit zurückgehe, dann kann ich mich nicht erinnern, dass wir jemals irgendwo hinfuhren. Wenn unsere Eltern Urlaub hatten, mauerten sie einen neuen Schweinestall, setzten einen neuen Zaun oder tapezierten gemeinsam das Wohnzimmer. Wenn die großen Ferien begannen, dann wussten wir, dass wir acht Wochen lang würden tun können, was wir wollten, aber verreisen würden wir nicht.
Das war auch deshalb nicht schlimm, weil wir nichts anderes erwarteten und weil die meisten anderen Kinder unseres Dorfes auch zu Hause blieben. Ich unterhielt mich am Samstag mit meiner Freundin, die aus einem Dorf in Ostwestfalen stammt, und sie hat genau das Gleiche erzählt. Auch ihre Eltern sind nicht verreist, auch sie hatten einen Hof, als Zwölfjährige ist sie mit Verwandten das erste Mal an der Ostsee gewesen. Natürlich lebten wir auf dem Lande, und für Städter mögen sich solche Ferien zu Hause anders angefühlt haben.
Ostern begann für uns der Frühling. An Ostern grillte unser Vater das erste Mal, egal, wie kalt es war, in dicker Joppe stand er über seine Würste gebeugt und wir hockten, in Decken gewickelt, auf der Hollywoodschaukel, die er selbst zusammengeschweißt hatte, während unsere Mutter Plastikeier an den Forsythienstrauch hängte und das Kaninchen in den Ofen schob, das unser Vater mit Tränen in den Augen geschlachtet hatte.
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Das ist, was ich mit Ostern verbinde. Aber Reisen? Warum ist das jetzt so wichtig geworden? Warum gibt es deshalb so viel Ärger? Hängt das mit dieser „Freiheit“ zusammen? Freiheit ist ja ein großes Thema, besonders jetzt, in der Pandemie. Die Freiheit wird verteidigt, die Freiheit wird vermisst, die Freiheit sei bedroht, die Freiheit einkaufen zu gehen, sich mit Freunden zu treffen und natürlich besonders die Freiheit, verreisen zu können.
Die Leute sind ganz verrückt nach dem Verreisen. Unbedingt wollen sie irgendwo anders hinfahren können. Mal andere Luft schnuppern, was anderes sehen, den Alltag hinter sich lassen, etc. „Sie müssen ja nicht verreisen, Frau Seddig, wenn es Ihnen nichts bringt“, höre ich sie reden, „aber ich … (verschiedene Argumente, alle sehr einleuchtend)“.
Ja, das verstehe ich doch, aber ich verstehe es trotzdem nicht, nicht in der Tiefe, nicht die Wichtigkeit dieses Themas. Als ich diese Kolumne schreibe, gibt es sehr viel Ärger darüber, dass man jetzt nach Mallorca fliegen, aber nicht an der Nordsee urlauben darf. Tja, das ist blöd und ungerecht und die Nerven liegen sowieso blank.
Die meisten Leute, die ich kenne, verreisen ganz gern mal. Ich selbst verreise auch ganz gern mal. Ich gehe gerne wandern. Ich verreise, um mit meiner Familie wandern zu gehen. Es erholt mich. Aber haben wir uns in unserer Kindheit nicht erholt, weil wir nicht verreist sind? Hatten wir keine Ferien, hatten wir kein Ostern, weil wir immer zu Hause blieben? War unser Leben armselig? War das Leben unserer Eltern armselig? Haben wir etwas verpasst? Verpasse ich jetzt etwas? Und was ist es, was ich, was wir, verpassen, wenn wir Ostern nicht irgendwohin fahren können? Und warum ist es so wichtig, warum emotionalisiert es die Menschen so sehr?
„Ich muss mal raus“, sagt mir eine andere Freundin am Telefon. „Ich muss endlich mal raus!“ Ist es das, die Flucht, raus aus dem eigenen Leben? Sehnen wir uns danach, unser Leben zu verlassen? Und ist diese Sehnsucht jetzt besonders stark, weil das Leben im Moment ein bisschen beschissener als sonst ist?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen