Verlogene Migrationsdebatte: Pöbelei und Propaganda
Die Migrationsdebatte wird meist faktenfrei und voll von Ressentiments geführt. Drittstaatenlösungen, egal wie viel beschworen, funktionieren nicht.
A us den Niederlanden kommt nicht nur die düstere Kunde, dass man in einem (einst) toleranten Land Wahlen allein auf Grundlage von Ressentiments gewinnen kann, sondern auch ein großartiges Buch, das uns helfen könnte, eine solche Politik der niederen Gefühle zu bekämpfen. Das aktuelle Buch von Hein de Haas – „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ – beginnt mit einem klaren Satz: „Das Phänomen ist zu vielschichtig für einfaches Schwarz-Weiß-Denken.“ Auch zu wichtig, könnte man hinzufügen.
Empfohlener externer Inhalt
Und trotzdem: Wir haben keine seriöse Migrationsdebatte mehr. Stattdessen Pöbelei und Propaganda. Die Flüchtlinge aus Syrien kamen: Das Boot ist voll. Dann kamen die Flüchtlinge aus der Ukraine – das Boot ist nicht mehr voll.
Wie der Soziologe de Haas mit unzähligen Fakten beweist, wissen die Allermeisten von uns nicht, worüber sie reden. Es hilft, sich zunächst einmal die Geschichte der Migration vor Augen zu führen: „Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent.“ Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Flüchtlingszahlen in Europa höher als heute. Was ist also neu? Die außereuropäische Herkunft der Migranten. Die Migrationsströme fließen nun umgekehrt.
Die meisten Zuwanderer kommen auf legalem Weg. 90 Prozent der afrikanischen Migranten verlassen laut de Haas den Kontinent mit gültigen Einreisepapieren. Ergo sei das Hauptproblem nicht, „dass die Grenzen nicht ausreichend gesichert sind, sondern dass das Zuwanderungssystem nicht funktioniert und trotz der großen Nachfrage nach Arbeitskräften keine geeigneten legalen Möglichkeiten bietet. Das führt zur Kriminalisierung der Zuwanderung.“
Denn die Nachfrage nach Arbeitskräften ist der Motor der Migration. Die europäischen Politiker bedienen sich oft einer binären Opposition zwischen (guten) „Flüchtlingen“ und (schlechten) „Wirtschaftsmigranten“. Diese Unterscheidung ist bequem, da je nach Bedarf mehr Menschen zu bösen Wirtschaftsmigranten erklärt werden können. Allerdings benötigen die europäischen Volkswirtschaften dringend weitere Arbeitskräfte. Ein grundlegender Widerspruch, den wir nicht ehrlich debattieren. De Haas: „Man kann nicht gleichzeitig die Wirtschaft öffnen und die Zuwanderungspolitik liberalisieren und dem Wunsch der Bevölkerung nach weniger Migration nachkommen.“
Neben Arbeitsplätzen sind Demokratie und Menschenrechte die hauptsächlichen Ursachen dafür, dass Menschen in Europa Schutz suchen. Ergo macht ein Teil unserer Gesellschaft folgende teuflische Rechnung auf: Egal, welche Knöpfe wir drücken, es gelingt uns nicht, die Fluchtmigration nach Europa zu senken. Woran liegt das? An unserer übertriebenen Humanität! An unserer liberalen Verfassung! Was wäre, wenn wir das alles beiseite räumen? Wieso beseitigen wir nicht gleich unsere demokratische Attraktivität?
Die momentan beschworenen Lösungen, etwa die Unterbringung von Flüchtlingen in Drittländern, ist seit Längerem schon Praxis. Wie es funktioniert, hat die Webseite „openDemocracy“ neulich recherchiert. Das britische Innenministerium behauptet, Flüchtlingen aus aller Welt einen „sicheren und legalen Weg“ zu bieten – über ein Programm des UN-Flüchtlingshilfswerks.
Wie wir zukünftig mit Asylberechtigten umgehen werden, zeigt das Beispiel von zwanzig irakischen Familien, die 2011 aus Irak geflohen waren. Das Haus einer der Familien war vom Islamischen Staat in die Luft gesprengt worden; ein Mädchen verbrannte bei dem Angriff. Andere waren als Anhänger religiöser Minderheiten oder Angestellte der Regierung bedroht.
Ausharren in der Warteschleife
Alle zwanzig Familien haben saubere Dokumente, die bislang nur einen Nutzen haben – sie beweisen, dass diese Menschen seit einem Jahrzehnt auf eine Neuansiedlung warten. Nach der Registrierung prüft das Flüchtlingshilfswerk die Fälle, und nach einem positiven Bescheid übernimmt einer von achtzehn Staaten (darunter das Vereinigte Königreich) den Antrag auf Asyl. Seit Jahren nun harren diese Menschen aber in der Warteschleife in Drittstaaten aus. Ein Kind ist mangels Medikamenten gestorben, ein Ehemann hat einen Schlaganfall nicht überlebt. Die meisten von ihnen bedauern nun, diesem Verfahren vertraut zu haben. In ihrer Verzweiflung erscheint ihnen ein morsches, übervolles Boot die bessere Alternative gewesen zu sein.
Ein weiteres Beispiel: Obwohl in Sonntagsreden unseren Unterstützern in Afghanistan mit viel Pathos dankend gedacht wurde, sind laut Spiegel erst dreizehn (13!) von ihnen im Rahmen eines „Bundesaufnahmeprogramms“ nach Deutschland gekommen. Dabei sollten pro Monat rund tausend Menschen legal einreisen dürfen. Ob für die Diskrepanz der Zahlen Bürokratie, Schlamperei oder Zynismus verantwortlich sind, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Entscheidend ist, dass durch die Verlagerung der Asylprüfung ins ferne Ausland das Asylrecht endgültig zur Makulatur wird.
Sinnlose Kampagnen
Vor Jahren traf ich in der Hauptstadt von Sierra Leone eine Gruppe von abgeschobenen Flüchtlingen, die teilweise hervorragend deutsch sprachen und sich über Wasser hielten, indem sie in den dortigen Schulen Vorträge hielten, um die Jüngeren vor einer Flucht zu warnen. Zwischen 2015 bis 2019 finanzierte die EU mehr als 130 solche „Aufklärungskampagnen“. Kosten: 45 Millionen Euro. Alles für die Katz! „Sie lachen uns nur aus“, sagte einer. „Ihr seid Versager, sonst nichts.“ Ein Sinnbild unseres teilweise absurden und fast immer verlogenen Umgangs mit Migration.
Wie de Haas nüchtern konstatiert: „Was als Flüchtlingskrise bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit eine politische Krise und spiegelt den mangelnden Willen wider, Geflüchtete aufzunehmen und die Verantwortung mit anderen Zielländern zu teilen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen