Verlegerin über Tradition und Brüche: „Ich habe ein Recht auf Spaß an der Arbeit“
Sie war Bänkerin und Hausbesetzerin, hat die Grünen mitgegründet und Buchhandlungen aufgebaut. Nun hat Martina Tittel Berlins ältesten Verlag gekauft.
taz: Frau Tittel, Tradition steht bei Ihnen ganz oben, oder?
Martina Tittel: Kommt drauf an. Ich mache jedes Jahr ein Weihnachtsessen. Dann schiebe ich eine Ente in den Ofen, lade Freunde ein, und wir essen zusammen, quatschen und trinken einen guten Wein.
taz: Neben den privaten gibt es auch kulturelle Traditionen. Wir sitzen hier in der ältesten Buchhandlung Berlins, der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung.
Tittel: So hieß sie seit 1713. Ich hab ihr den alten Namen zurückgegeben.
taz: Und mit dem Nicolaiverlag haben Sie auch noch den ältesten Verlag der Stadt gekauft. Was verbindet Sie mit Nicolai und seiner Zeit?
Tittel: Da ging es los mit der Aufklärung. Wir tauschen Glauben gegen Wissen. Es war unglaublich, was dieser Friedrich Nicolai gemacht hat. Er hat die Allgemeine Deutsche Bibliothek gegründet und Bücher rezensieren lassen, die der Aufklärung dienten, egal ob Astronomie oder Kräuterheilkunde oder Mathematik. Dafür hat er 444 Rezensenten beschäftigt und 80.000 Bücher besprochen.
taz: Es ging Ihnen also nicht, etwa im Sinne eines Superlativs, um den ältesten Verlag und die älteste Buchhandlung hier in Berlin. Es ging Ihnen auch um die historische Figur Friedrich Nicolai.
Der Mensch
Martina Tittel, geboren 1958 in Berlin, ist in Neukölln aufgewachsen. Sie zog mit 17 aus, machte gegen den Willen ihrer Eltern Abitur und besetzte ein Haus am Richardplatz in Neukölln. Nach ihrer Ausbildung bei Karstadt studierte sie Germanistik und Biologie. Doch statt Lehrerin zu werden, übernahm sie ihre erste Buchhandlung. Es folgten zahlreiche Stationen ihres Berufslebens, bevor sie 2015 die Nicolaische Buchhandlung übernahm. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin.
Die Verlegerin
Seit Mai 2024 ist Martina Tittel Verlegerin, sie hat mit dem Nicolai Verlag den ältesten Berliner Verlag übernommen. Derzeit werden die Räume im historischen Nicolaihaus saniert. Mit dem Programm will Tittel an die aufklärerische Tradition des Verlags von 1713 anknüpfen.
Tittel: Ja, er war ein gesellschaftlicher Motor und gehörte zusammen mit Mendelssohn und Lessing zum Dreigestirn der Berliner Aufklärung. Er war auch einer von denen, die sich vor die Berliner Juden gestellt und sie verteidigt haben. Aber natürlich konnte ich einen Verlag, der so viel Geschichte hat und deshalb wertvoll ist, nicht untergehen lassen.
taz: Der Nicolaiverlag hat, bevor Sie ihn gekauft haben, schon länger nichts mehr herausgegeben.
Tittel: Er drohte in der Versenkung zu verschwinden. Also habe ich mich entschlossen, ihn zu kaufen.
taz: War Nicolai ein Hans Dampf in allen Gassen?
Tittel: Ja.
taz: Ein Macher?
Tittel: Total.
taz: Sprechen Sie da auch ein bisschen über sich selbst? Sie sind auch eine Macherin und ein Büchermensch.
Tittel: Gelesen habe ich schon immer gerne.
taz: Sie haben einmal erzählt, dass Sie sich das Lesen selbst beigebracht haben.
Tittel: Ja.
taz: Warum?
Tittel: Weil meine Großmutter mich beim Vorlesen beschissen hat.
taz: Wie das?
Tittel: Sie hat die Märchen, die sie mir vorgelesen hat, immer abgekürzt. Dabei kannte ich die Märchen auswendig. Ich wollte, dass sie sie bis zum Ende liest.
taz: Es ist doch das gute Recht der Großmutter, abzukürzen.
Tittel: Ich fand das so scheiße, dass ich angefangen hab, das mit den Buchstaben zu lernen.
taz: Sind Sie perfektionistisch?
Tittel: Eher bin ich die Frau fürs Grobe.
taz: War eine schwierige Zeit damals in den sechziger und siebziger Jahren in Berlin-Neukölln und in der Gropiusstadt, der Hochhaussiedlung, in die Sie dann gezogen sind.
Tittel: War nicht lustig.
taz: Erzählen Sie.
Tittel: Grau. Es war grau. ’ne muffige Zeit. Wenn man heute mitbekommt, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, kriegst du mit, wie sie sich kümmern. Dass sie was für die Kinder tun, sie fördern. Das war damals nicht. Ich musste dafür sorgen, dass ich genug abbekam von all dem, was ich haben wollte.
taz: Sie sind mit Ihrer Mutter und Ihrem Stiefvater in der Elbestraße aufgewachsen. Tiefstes Neukölln.
Tittel: Was schön war, war die Eisbahn in der Oderstraße. Gropiusstadt war dann gruselig.
taz: Es gab Warmwasser und Zentralheizung.
Tittel: Das war das einzig Positive. Und ich hatte zum ersten Mal im Leben mein eigenes Zimmer. Alles andere war gruselig. Von daher kam auch, dass ich mich ganz auf die Schule konzentriert habe. Ich hab auch sehr viel Sport gemacht.
taz: Die Schule war also eine Art Rettung?
Tittel: Es gab sehr engagierte Lehrer, das war die erste Gesamtschule Deutschlands damals. Die Lehrer haben uns gesehen, uns gefördert.
taz: Hätte es ohne Schule und Sport auch die Möglichkeit gegeben, in Richtung Christiane F. abzubiegen? Sie ist ja auch in der Gropiusstadt aufgewachsen.
Tittel: Nee, ich war nie ein Drogentyp.
taz: Für die Schule mussten Sie aber kämpfen. Ihre Eltern wollten nicht, dass Sie Abitur machen.
Tittel: Die wollten, dass ich möglichst schnell eine Ausbildung mache und ausziehe. Wieso willst du Abitur machen, du heiratest ja doch!
taz: Was haben Sie geantwortet?
Tittel: (lacht) Ich heirate nie!
taz: Warum war es Ihnen so wichtig, Abitur zu machen?
Tittel: Ich habe mit zehn Jahren erkannt, dass ich nur mit Bildung weiterkomme. Ich fand die Gesellschaft, in der ich gelebt habe, schrecklich.
taz: Sie haben es dann geschafft, mit 17 auszuziehen.
Tittel: Ich hab mir eine eigene Wohnung gesucht, bin zum Sozialamt gegangen und hab gesagt: Ich hab jetzt noch ein Jahr Schule vor mir, meine Eltern lassen sich gerade scheiden, zu Hause herrscht Mord und Totschlag, ich will in Ruhe mein Abitur machen, aber ich hab gar kein Geld. Dann haben die gesagt: Is jut, Mädchen, lass uns ma’ machen.
taz: Hat Sie das überrascht?
Tittel: Total.
taz: War das auch wieder so ein Moment, wo Sie jemand, wie die Lehrer, gesehen hat?
Tittel: Das waren eher ganz gutwillige Muttis vom Typ: Ooch, Kleene, jetz heul ma’ nicht. Kriegen wir schon hin.
taz: Nach dem Abitur haben Sie im Kaufhaus bei Karstadt eine Lehre gemacht.
Tittel: Erst mal den Spatz in der Hand haben und den Vogel auf dem Dach eine Weile angucken, ob ich den wirklich will. Ich wollte damals eigentlich Psychologie studieren. Heute kann ich sagen: Karstadt hat uns damals eine sehr gute Ausbildung angedeihen lassen. Ich hab sehr viel mitbekommen vom Handel. Aber ich war nicht dazu geboren, im Warenhaus zu arbeiten.
taz: Sie sind rückblickend betrachtet eher dazu geboren, Bücher zu machen und zu verkaufen? Wann sind Sie denn zum ersten Mal, von Ihrer Oma abgesehen, mit Büchern in Berührung gekommen?
Tittel: Das erste Buch war die Schulfibel, wo man die Buchstaben lernt. In meinem Elternhaus gab es keine Bücher. Ich wurde da eher vom Lesen abgehalten, das war für meine Eltern eine Zeitverschwendung. In der Schule habe ich dann die halbe Schulbibliothek ausgelesen. Die Bibliothekarin hat mir Biografien zu lesen gegeben. Curie, Einstein, Schliemann. Ich wollte wissen.
taz: Gleichzeitig sind Sie ausgebrochen, haben Grenzen überschritten, ein Haus besetzt. 1977 haben Sie auch die Alternative Liste mitbegründet, die Vorgänger der Berliner Grünen. Auch bei der Gründung der Grünen 1978 in Karlsruhe waren Sie dabei.
Tittel: Schon als ich 14 war, hatten wir die ersten antifaschistischen Tage in Neukölln organisiert. Ich war die Chefredakteurin der Wandzeitung. Später war ich bei der KPD/AO.
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taz: Der Partei des Großen Vorsitzenden Christian Semler, das verstorbene Urgestein der taz.
Tittel: Ja! Da gab es meinen ersten ideologischen Konflikt. Die schwenkten von Albanien nach China. Das habe ich nicht verstanden. Ich bin also ins Regionalbüro und wollte die in eine Diskussion verwickeln. Sie konnten es nicht erklären. Also bin ich raus. Das war dann auch die Zeit, wo es mit den ersten Bürgerinitiativen losging. Das war aber nicht so meins.
taz: Sie waren da eher noch revolutionär unterwegs.
Tittel: Unbedingt. Was die Alternative Liste angeht, fand ich aber den Umgang mit den Menschen angenehm. Das war nicht so ideologisch verbrämt.
taz: Welchen Plan hatten Sie damals für Ihr Leben?
Tittel: Gar keinen.
taz: Sie hätten auch in die Politik gehen können.
Tittel: Nein. Ich war zwei Jahre in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln und war froh, als ich rausrotieren konnte. Das war furchtbar, vor allem, was die Sprache angeht. Die ändert sich in deinem Kopf, wenn du in der Politik bist, da formulierst du plötzlich ein ganz komisches Deutsch.
taz: Die Sprache und die Bücher. Wann sind Sie denn den Büchern wieder begegnet?
Tittel: Nach der Ausbildung bei Karstadt habe ich angefangen zu studieren und nebenbei als Krankenpflegerin gejobbt. Mitte der achtziger Jahre bot sich dann die Gelegenheit, beim Elefantenpress-Verlag als Krankheitsvertretung die Buchhandlung zu betreiben. Die war ganz schrecklich geführt, also hab ich sie umgebaut. Dann kam das Angebot, die erste Buchabteilung von Ikea in Spandau aufzumachen und später dann noch in Bremen, Hamburg und Hannover. Das war alles noch während des Studiums.
taz: Sie sehen das Problem und machen los. Wo haben Sie das gelernt?
Tittel: Keine Ahnung. War aber immer so.
taz: Wenn man nicht zurückbleiben will, muss man vorne sein?
Tittel: Ob sich was tut, liegt an dir. Wenn du willst, dass sich Dinge ändern, musst du was tun.
taz: Haben Sie deshalb Ihr Studium abgebrochen und sind zu einer Buchhandelskette gegangen, aus der später Thalia hervorging?
Tittel: Die haben mich abgeworben.
taz: Eine eigene Buchhandlung war nie Ihr Traum?
Tittel: Ich hatte Angst. Ich hatte kein Geld und hatte Angst. Das konnte ich mir nicht vorstellen.
taz: Stattdessen haben Sie die Bücher an den Nagel gehängt und sind Bänkerin geworden.
Tittel: Nach der Wende habe ich bei einer Tochter der Bayrischen Hypo die Expansionsabteilung geleitet und ein Netz mit 50 Filialen in den neuen Ländern aufgebaut. Das war die erste Privatkunden- und Automatenbank. Meine Aufgabe war, die Immobilienverträge abzuschließen und den Ausbau zum festgelegten Eröffnungsdatum zu koordinieren. Danach bin ich zurück nach Berlin und habe 40 Filialen geleitet.
taz: Da haben Sie zum ersten Mal Geld verdient.
Tittel: Ja, das war wohl so. Dann kam D2, was heute Vodafone ist. Für die habe ich auch ein Filialnetz aufgebaut.
taz: Haben Ihnen die Bücher damals nicht gefehlt?
Tittel: Doch, natürlich. Aber nun habe ich auch noch Marketing beherrscht.
taz: Das klingt so, als hätten Sie immer vorgehabt zu den Büchern zurückzukehren, nur um vorher noch ein paar Lehrjahre zu absolvieren.
Tittel: Das war nicht mein Plan damals. Es gab nur den einen Grundsatz: Ich mache jeden Job nur so lange, wie er mir Spaß macht. Ich habe ein Recht auf Spaß an der Arbeit.
taz: Der Rückkehr zu den Büchern fand dann beim Kulturkaufhaus Dussmann in der Berliner Friedrichstraße statt. Dort waren Sie von 2000 bis Ende 2006 Geschäftsführerin. Haben Sie da gedacht: Back to the roots?
Tittel: Ja, das war so. Und eine Herausforderung. Dussmann hat gesagt, ich habe ein halbes Jahr, um den Laden zu einer Schwarzen Null zu bringen. So was spornt mich an. Das habe ich geschafft.
taz: Mit welchem Konzept?
Tittel: Ich wollte für das Kulturkaufhaus einen bestimmten Ruf begründen. Dazu gehören selbstverständlich die kleinen Verlage. Außerdem habe ich angefangen, Veranstaltungen zu machen. Wir hatten auch eine große Musikabteilung mit viel Jazz. Die war aber so gut wie unbekannt. Also haben wir gesagt, wir machen ein Jazzfest. Beim ersten kamen auf der Friedrichstraße 20.000 Leute. Beim letzten, das ich gemacht habe, waren es 60.000 Leute. Das war geil, und die Leute wussten: Die haben Jazz. Ich wollte beweisen, dass das „Kultur“ vor dem „Kulturkaufhaus“ zu Recht steht.
taz: Wo nehmen Sie die ganze Kraft und Energie hier, um das alles zu realisieren?
Tittel: Kochen. Lesen.
taz: Lesen? Haben Sie dazu überhaupt die Zeit?
Tittel: Ich habe gelernt, effizienter zu lesen. Und wenn ich meine Nordic-Walking-Runde mache, habe ich ein Hörbuch auf dem Ohr. Ich muss auch nicht mehr jedes Buch bis zu Ende lesen.
taz: Wann kam der Punkt, wo Sie sich doch getraut haben, Buchhändlerin zu werden und die Nicolaische Verlagsbuchhandlung zu kaufen?
Tittel: Zwischen Dussmann und Buchhandlung war ich sieben Jahre lang als Unternehmensberaterin unterwegs. Da kannst du zwar einen Umsetzungsplan machen, aber die Leute nicht zum Jagen tragen. Du kannst Ihnen auch nicht die Entscheidung abnehmen. Das war dann der Moment, wo ich mir selbst gesagt habe: Ich guck jetzt mal, wo ich Geld auftreibe und kaufe mir eine Buchhandlung. Und wie es der Zufall wollte, stand die Nicolaische Buchhandlung zum Verkauf.
taz: Und jetzt haben Sie noch den Verlag dazu. Andere gehen mit 66 in Rente.
Tittel: Auf der letzten Buchmesse habe ich immer nur zwei Sachen gehört: Mann, bis du mutig! Oder: Boah, bist du bescheuert! Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte.
taz: Das Programm ist noch ein bisschen wild.
Tittel: Es gibt einen Titel, mit dem ich Geld machen und die beiden anderen querfinanzieren will. Das Programm wird sich dann ergeben. Berlinensien sollen es sein und zeitkritisch muss es sein.
taz: Sie überlegen bestimmt auch, wie sich das Aufklärerische, für das Nicolai stand, ins Hier und Jetzt übersetzen ließe. Gehen Sie da strategisch vor oder folgen Sie da auch Ihrem Bauchgefühl?
Tittel: Beides. Es gibt Figuren hier in Berlin, mit denen würde ich gerne einen Band machen wie mit Ulli Zelle. Mein Berlin, mein Leben.
taz: Ulli Zelle ist ein fast schon legendärer Fernsehreporter in Berlin. Was wäre denn mit dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit?
Tittel: Zum Beispiel. Ich habe eine Namensliste, die ich abtelefoniere. Und daneben gibt es Zeitkritisches. Was ist das heute? Das sind unsere Krisen. Migration. Osteuropa. Krieg. Judentum. Da gucke ich nach Autorinnen und Autoren.
taz: Mit dem Verlag kehren Sie jetzt auch noch ins historische Nicolaihaus zurück.
Tittel: Schön, nicht?
taz: Das Gespräch könnte hier jetzt enden. Aber eine Frage stellt sich mir schon noch: Wer wird das alles erben, was Sie aufgebaut haben?
Tittel: Niemand. Ich werde verkaufen. Aber derjenige oder diejenige müsste eine ähnliche Macke haben wie ich.
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