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Verkehrskonzept „Berlin 2064“Take the „E“-Train!

Eine Gruppe ÖPNV-Begeisterter hat ein gänzlich neues Expressbahn-Konzept für Berlin entwickelt. Jetzt muss nur noch die Politik Wind davon bekommen.

S-Bahnen am Bahnhof Hermannstraße – daneben die kaum genutzten Südring-Gleise Foto: IMAGO / Emmanuele Contini

Berlin taz | Jens Wieseke denkt in großen Zeiträumen. Der langjährige Sprecher des Berliner Fahrgastverbands IGEB ist zarte 60 Jahre alt – um die Früchte seiner jüngsten Idee reifen zu sehen, müsste er wohl mindestens 100 werden. „Berlin 2064“ heißt das Konzept zur Weiterentwicklung des Berliner Nahverkehrs, das Wieseke zusammen mit drei anderen ÖPNV-Begeisterten entwickelt hat. Am Dienstagabend stellten sie es der Presse vor.

„Noch ein schönes Verkehrskonzept? Ja, noch eins“, heißt es mit leichter Selbstironie auf der Website berlin2064.de, die die Ideen der vier ausbreitet. Wie Wieseke wissen auch Lukas Iffländer, Vize-Bundesvorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn, der Student Ronny Krüger und der Schüler Ben Hennig, der im Alleingang das Konzept für eine neue Expressbuslinie entwickelt hat, dass U-Bahn- oder gar Magnetbahn-Träume kommen und gehen. Umso größer ist ihre Courage, in Zeiten leerer Kassen einen Netzausbau als Zukunftsprojekt zu skizzieren, dessen Kosten sie weder genau beziffern können noch wollen.

Aber schließlich geht es um die Mobilität in einer weiterhin wachsenden Stadt, und zur dramatischen Haushaltslage meint Jens Wieseke: „Das sind Wellen.“ Irgendwann würden auch wieder ausreichend Mittel für Infrastruktur zur Verfügung stehen. Und dann, ergänzt Lukas Iffländer, sei es gut, wenn schon ein paar „gute“ Pläne in der Schublade liegen.

Kernstück von „Berlin 2064“ ist ein völlig neues Verkehrsmittel, auch wenn es nicht schwebt, sondern ganz klassisch über Schienen rollt. „E-Bahn“ (wie „Express“) lautet der Arbeitstitel für Regionalbahnen, die nicht nur die Pendlerströme zwischen Berlin und dem Umland hin- und herbefördern, sondern für zügigen Personentransport innerhalb der Stadt sorgen sollen. Auf längeren Strecken verliere nämlich insbesondere die U-Bahn mit ihren vielen Halten an Attraktivität gegenüber dem Auto. Die Fahrten dauern einfach zu lange.

Nicht zu utopisch

Damit es nicht zu utopisch wird – wie der vor einigen Jahren von der IGEB unterbreitete Vorschlag, einen neuen S-Bahn-Tunnel unter Kreuzberg hindurchzubohren – schlägt das unabhängig agierende „Berlin 2064“-Team vor, die E-Bahn auf bereits vorhandene Gleise zu setzen, die derzeit kaum genutzt werden: den Südring. Auf den parallel zur S-Bahn verlaufenden Schienen ist im Gegensatz zum nördlichen Abschnitt, wo Fernzüge verkehren, wenig los. Nur die entsprechenden Bahnhöfe und eine Elektrifizierung fehlen.

Eine Linie E1 durchschnitte die Stadt von Südwesten nach Nordosten: Sie würde in Zehlendorf starten, über Steglitz zum Südkreuz auf den Ring führen und vom Ostkreuz aus über Lichtenberg nach Hohenschönhausen und bis Karow führen. Die E2 verliefe von Spandau über West- und Südkreuz nach Schöneweide und Grünau, die E3 schließlich vom Westkreuz nach Mahlsdorf.

Die Linien könnten jeweils alle 30 oder sogar 15 Minuten verkehren. Darüber, wo sie auf dem Ring sonst noch halten könnten, herrscht noch keine Klarheit in dem Team: etwa an den direkt aufeinanderfolgenden Umsteigepunkten zur U6, U7 und U8, also Tempelhof, Hermannstraße und Neukölln? Das wäre einerseits praktisch, würde andererseits aber den angestrebten Zeitvorteil wieder schmälern. Wieseke tendiert zur U8, immerhin fährt die zum Alex.

Natürlich ist all das erst einmal nur ein sehr engagierter Traum – auch wenn Iffländer nach eigener Aussage „die kompletten Trassen einmal ausgeplant“ hat. Und es braucht dafür weit weniger Fantasie als für den 2023 vom BVG-Vorstand vorgeschlagenen Masterplan zum U-Bahn-Ausbau, der unter anderem einen komplett neuen Außenring namens „U0“ ins Spiel brachte.

Strategische Ergänzungen

Für die U-Bahn hat „Berlin 2064“ auch Ideen parat. Allerdings keine neuen Linien, sondern lediglich strategische Ergänzungen über die jetzt schon vom Senat geplanten oder geprüften Verlängerungen zum Mexikoplatz (U3), BER (U7) und Pankow-Kirche (U2) hinaus.

Da fährt die U1 von der Warschauer Straße weiter zum Ostkreuz – ein willkommener „Bypass zur Stadtbahn“, sagt Jens Wieseke – und auf der anderen Seite unterm Kurfürstendamm bis Halensee. Die U3 führt über Frankfurter Tor und Landsberger Allee nach Weißensee, die U5 bis Jungfernheide und die U9 von Rathaus Steglitz über das Benjamin-Franklin-Klinikum nach Lichterfelde Ost.

Schließlich wollen Wieseke und Co. auch noch die Großsiedlung Falkenhagener Feld in Spandau ans U-Bahn-Netz anschließen. „Mit diesem Vorschlag werden wir viele überraschen“, heißt es auf der Website. Und tatsächlich klingt die vorgeschlagene „U72“ einigermaßen ungewöhnlich: Sie soll als „vollautomatische U-Bahn-Linie im Linksverkehr“ betrieben werden – links, um ein niveaugleiches Umsteigen zur U7 im U-Bahnhof Rathaus Spandau zu ermöglichen.

Auch wenn es bei der Präsentation am Dienstag bisweilen so klang, als ginge es schon darum, die letzten Details festzuklopfen: Die Gruppe wird sich jetzt sehr anstrengen müssen, um Eindruck bei den VerkehrspolitikerInnen zu machen – sonst droht „Berlin2064“ schnell in den eigenen Schubladen zu verschwinden. In jedem Fall steckt eine Menge Enthusiasmus hinter dem Projekt. Und, wie Jens Wieseke zum Abschluss betont: „Einfach zu sagen: wir können nicht, wir wollen nicht – das tut mir weh.“

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3 Kommentare

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  • Lese ich hier etwa eine angedachte Mischnutzung von S-Bahn und Regional/Fernbahn auf dem selben Gleis? Wenn ja, dann braucht man sehr viel Fantasie für eine mögliche Realisierung.



    Es fängt an bei der unterschiedlichen Bahnsteighöhe. Die S-Bahn hat 960 mm, die reguläre Bahn hingegen 760 mm. Dann gibt es unterschiedliche Zugsicherungssysteme, sprich Signaltechnik, welche miteinander verbunden werden müsste. Da stehen wahrscheinlich jedem Planer die Nackenhaare zu Berge. Und schlussendlich setzt eine Mischnutzung immer die Betriebssicherheit herunter. Denn irgendwo im Netz braucht es Übergänge vom einen System in das andere.

  • Von einer wirklichen Verkehrswende werde ich erst sprechen, wenn der Modalsplit mindestens 50% ÖPNV beträgt und weniger als 5% PKW.

    Das wird auch in 100 Jahren nicht passieren, und auch nicht mit zehnmal sovielen Bahnen, solange moderne Menschen möglichst schnell dezentralisiert alles unterbringen wollen: Kind in die Schule bringen, Arbeiten, Arztbesuch, Einkaufen, Kind von der Schule abholen, Freund besuchen, Kneipe, Kino.

    Außerdem müsste die Stadt Berlin oder generell irgendeine Stadt radikal umgebaut werden. Neu geplant, auf ÖPNV und Rad und nicht autogerecht.

    Und es muss das ökonomische Denken aufgegeben werden, im Sinne der Supermarkt oder der Arzt lohne sich bei 500 Einwohnern nicht. Aber dass 1 Arzt sich um 1000 Leute kümmern muss, und oftmals überarbeitet sind wegen zuvieler Patienten, das lohne sich...

  • Die E1 bis E3 klingen wie sehr gute Ideen. Warum wurde die Bahnstrecke bisher nicht ausgenutzt? Sind die Bahnhöfe dazu ausgestattet um diese mit zu nutzen?