Verhandlungen beim Ukraine-Gipfel: Den Euromaidan verteidigen
In Paris wird im sogenannten Normandie-Format über einen Waffenstillstand im Osten der Ukraine verhandelt. Den Schlüssel dazu hat Wladimir Putin.
K aum jemand im Zentrum Europas redet noch über den Krieg in der Ukraine. Allenfalls denken sie, dass „da irgendwo weit weg“ alles „eingefroren“ sei. Doch die Ukraine ist nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Dort sterben praktisch jeden Tag Menschen an der Front – Militärangehörige und Zivilisten.
Vor wenigen Tagen verbrannte eine alte Frau bei lebendigem Leib in ihrem Haus. Großmutter Mascha hatte in diesem Krieg ihren Mann und ihren Sohn verloren. Seit dem Sommer 2014 gibt es in diesem Dorf weder Wasser und Strom noch eine Bürgermeisterei. Die Getöteten werden einfach in den Gärten beerdigt. Für Großmutter Mascha sollte es der fünfte Winter in Zeiten von Krieg und Einsamkeit werden. Doch an jenem Abend schlief sie ein und wachte nicht mehr auf. Eine Gaslampe war in Brand geraten. Der Name von Großmutter Mascha wird nie in einer offiziellen Statistik der Opfer dieses Krieges auftauchen, aber genau dieser Krieg ist es, der sie getötet hat.
Und dennoch: Es scheint eine Chance zu geben, dieses Grauen endlich zu beenden. Ein Treffen von Angela Merkel, Emmanuel Macron, Wladimir Putin und Wolodymyr Selenski hat am Montag in Paris stattgefunden und damit drei Jahre nach den letzten Verhandlungen im Rahmen des „Normandie-Formats“.
Putin in der Position der Stärke
Russlands Präsident Wladimir Putin agiert wie immer aus einer Position der Stärke heraus und versteht daher nur eine harte Rhetorik. Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hingegen bedient sich noch der Sprache der Diplomatie. Um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen, hat Selenski Schritte gemacht, die in der Ukraine nicht gerade populär sind.
Er hat die Truppen im Donbass mehrere Kilometer hinter die Waffenstillstandslinie zurückgezogen, was seine politischen Gegner, wie Ex- Staatschef Petro Poroschenko, als ersten Schritt zu einer Kapitulation im Krieg mit Russland bezeichnen. Dann bestätigte Selenskis Mannschaft die „Steinmeier-Formel“. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, 2015 noch Außenminister, hatte diesen Kompromiss zur Lösung der Situation im Donbass vorgeschlagen.
Die „Steinmeier-Formel“ sieht vor, dass ein Gesetz über die De-facto-Autonomie der von Separatisten kontrollierten Gebieten um Donezk und Lugansk erst in Kraft tritt, wenn Lokalwahlen auf der Grundlage ukrainischer Gesetze durchgeführt worden sind. Diese Wahlen müssen von unabhängigen Beobachtern der OSZE anerkannt werden.
Kiew und Moskau interpretieren diesen Aktionsplan ganz unterschiedlich. Vor allem herrscht Uneinigkeit darüber, wann die Ukraine die Kontrolle über die Grenze zwischen den besetzten Gebieten im Donbass und der Russischen Föderation wiedererlangt – vor oder nach den Wahlen.
Putin beharrt darauf, dass diese Treffen und Verhandlungen vor allem für die anderen Staaten wichtig sind, nicht jedoch für Russland. Die Ukraine brauche eine Friedenslösung, Europa eine Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen.
Was ist mit Macron passiert?
Frankreichs Präsident hat erklärt, dass die Ukraine alle notwendigen Bedingungen für den Gipfel erfüllt hat. Ist etwa die Ukraine der Aggressor, ist es an ihr, alle Bedingungen zu erfüllen?
Was ist mit Präsident Macron passiert? Anfangs ließ er noch Vertreter russischer propagandistischer Fernsehsender aus seinen Pressekonferenzen entfernen. Jetzt redet er offen über die Notwendigkeit der Wiederherstellung der strategischen Partnerschaft mit Russland, über den „Glauben an Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ sowie den Hirntod der Nato. In der Ukraine begreifen die Menschen, dass die Unterstützung Frankreichs wie Schnee in der Sonne schmilzt.
Immer mehr Experten sind der Meinung, dass die Gespräche im Format „drei plus eins“ stattfinden werden. Ein diplomatisch völlig unerfahrener Wolodymyr Selenski wird sich drei TeilnehmerInnen gegenübersehen, die als Moderatoren auftreten. Wo wird für die europäischen Führer die rote Linie sein, die Wladimir Putin nicht überschreiten darf, wenn es um seine Interessen in der Ukraine geht? Europa stellt sich für viele UkrainerInnen so dar: Eine Hand verteilt Unterstützung in Milliardenhöhe zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und europäischer Werte, während die andere jemandem die Hand schüttelt, der das alles zerstört.
Internationaler Gerichtshof
Auch der Gefangenenaustausch „35 gegen 35“ vom September dieses Jahres war kein Akt guten Willens der Russen. 23 Seeleute und drei ukrainische Kriegsschiffe, die Russland im vergangenen Jahr in der Meerenge von Kertsch gekapert hatte, hätten laut einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag sowieso zurückgegeben werden müssen. Zunächst überstellte Russland die Personen, zwei Monate später die Schiffe.
Im Rahmen dieses Gefangenenaustauschs kamen auch sehr bekannte ukrainische politische Häftlinge frei – wie der Regisseur Oleg Sentzow. Bei seinem Auftritt im EU-Parlament, wo er den Sacharow-Preis erhielt, sagte er: „Russland und Putin wollen keinen Frieden im Donbass, sie wollen keinen Frieden für die Ukraine, sie wollen die Ukraine in die Knie zwingen.“
Für Russland in Gestalt von Wladimir Putin wird es Zeit, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Nur die Regierenden der führenden Staaten der Welt können das erreichen. Sie dürfen nicht nachgeben, sondern müssen ihre Werte verteidigen – vor allem jene, für die UkrainerInnen während des Euromaidans mit einer EU-Flagge auf den Schultern gestorben sind. Es gibt nur einen Weg, um die Sanktionen gegen Russland aufzuheben: die Gründe zu beseitigen, derentwegen sie verhängt wurden.
Putin die Hand zu reichen bedeutet, die Augen vor 13.000 Toten zu verschließen, 298 Opfer des Abschusses der Boing auf Flug MH17 zu vergessen, über Dutzende festgenommene Tataren auf der Krim zu schweigen. Und gegenüber dem Schicksal von Großmutter Mascha gleichgültig zu sein.
(Aus dem Russischen von Barbara Oertel)
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