Verfassungsreferendum in Chile: Aus alt mach alt
Beim Volksentscheid in Chile blieb die Veränderung dem Altbekannten unterlegen. Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs angeschoben.
P olitik braucht Imagination, Vorstellungskraft, Veränderungswillen – sonst gleitet sie ab in die Verwaltung des Status quo, was dann fast automatisch dazu führt, dass sie Interessen vertritt und nicht Prinzipien. Und es ist jetzt schon ein großer Erfolg des chilenischen Verfassungsprozesses, auch wenn der so vielversprechende Neuentwurf gerade in einem Referendum abgelehnt wurde, dass diese Imagination befreit wurde aus der Enge des Denkens der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.
ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.
Wir leben, das wird in diesen Tagen wieder klar, wo Liz Truss laut New Statesman die rechteste britische Premierministerin mindestens seit Margaret Thatcher sein wird, wir leben am Ende des neoliberalen Zeitalters. Was nicht heißt, dass der Neoliberalismus am Ende ist; es heißt vor allem, dass die Verfassung der Welt, so wie der Neoliberalismus sie geschaffen hat, zu Verheerungen in den Menschen und in der Natur geführt hat, deren Folgen immer deutlicher werden – das Ende der Welt scheint da leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus.
Und das Verwirrende dieser Situation ist, dass Dringlichkeit und Notwendigkeit der Veränderung immer deutlicher werden, die Folgen des Raubbaus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte für Klima, Natur, Gerechtigkeit – dass die Kraft und der Mut aber oft genau denen zu fehlen scheint, die unter der Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Regimes am meisten leiden. Die Abstimmung in Chile hat gezeigt, woran das liegen könnte.
Sie hat auch gezeigt, dass es eine neue, andere, offene Linke gibt, die es versteht, die verschiedenen Themen zusammenzuführen und neue politische Lebensentwürfe zu entwickeln, umfassend und menschenfreundlich. Es war, wie so oft, ein Kampf des Alten gegen das Neue. Der neue Verfassungsentwurf markierte die Grenze zur Vergangenheit, eine Vergangenheit unterstützt durch mächtige Interessen:
Mediale Kampagne im In- und Ausland
Chiles derzeitige Verfassung ist ein Produkt der Diktatur von General Pinochet, 1980 erdacht, um der Privatisierung und dem radikalen Staatsabbau den Weg zu bereiten – das Land wurde zum neoliberalen Labor erklärt, unterstützt von US-Ökonomen, die kein Problem damit hatten, Grundrechte wie Bildung, Gesundheit, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu kommerzialisieren.
Wie mächtig diese Strukturen der Vergangenheit sind und bleiben, zeigte sich etwa in der medialen Kampagne gegen die neue Verfassung: In Chile selbst, wo der politische Diskurs massiv verengt ist, aber auch in internationalen Medien, die mit grenzüberschreitender Parteilichkeit – man könnte es auch Aktivismus oder Lobbyismus nennen – das Alte gegenüber dem Neuen favorisierten.
The Economist etwa, lange Leitmedium einer Umverteilung von unten nach oben, brachte Schreckenstexte mit Krawallbildern. Und die Washington Post, im Besitz des Internet-Milliardärs Jeff Bezos, warnte davor, dass Chile seine reichhaltige Lithiumproduktion durch die neue Verfassung anders, womöglich gerechter oder weniger umweltschädlich, gestalten könnte; Lithium treibt die Internet-Ökonomie an.
Während also die Kräfte der Vergangenheit und des Status quo mächtig und gut organisiert waren, war auch der Kampf um die Zukunft nicht leicht, bleibt nicht leicht – auch das ist eine Lektion dieses Verfassungsprozesses, der schon deshalb inspirierend war, weil er eben über lange Zeit ein gesellschaftliches Großgespräch ermöglichte, wie die Wunden der Vergangenheit, koloniale Ausbeutung von Mensch und Natur, Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, Frauenfeindlichkeit, mit den Möglichkeiten und Erfordernissen des 21. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden könnten.
Von Lateinamerika lernen
Der Verfassungsentwurf bleibt exemplarisch, weil er eine Ordnung nach dem Nationalstaat entwirft, einen plurinationalen Staat, in dem die souveränen Rechte der indigenen Bevölkerung anerkannt werden. Wobei der Gedanke eines sehr viel weiter gefassten politischen Rahmens eben auch für Nationalstaaten in Europa oder anderswo eine Inspiration sein sollte – der demokratische Diskurs ist in vielen Ländern so veränderungsscheu heruntergefahren, die politische Imagination des sogenannten Westens könnte so viel von Chile, aber auch Kolumbien und anderen lateinamerikanischen Ländern lernen, es ist ein Jammer, dass eine direktere Kraftübertragung ausbleibt.
Denn dann würden vielleicht viele verstehen, was eine Verfassung im 21. Jahrhundert sein kann – ein Dokument, das eine ethische Dimension hat, umfassend und holistisch gedeutet, über die Rechtefrage hinaus. Der Verfassungsentwurf in Chile etwa sah die Philosophie des „Buen Vivir“, des guten Lebens als zentral an für die Menschen und ihre Ordnung, für das Verhältnis zur Natur auch, mit der die Menschen in einem „harmonischen Gleichgewicht“ leben sollten: Chile als ökologischer Staat war gleich in Artikel 1 der abgelehnten Verfassung klar benannt.
Der chilenische Verfassungsentwurf ist damit über sein Scheitern hinaus exemplarisch, als Lebensentwurf, wie ein gutes Leben im 21. Jahrhundert gelingen kann, und als Gegenentwurf zur Schicksalsergebenheit in die Unveränderbarkeit der Dinge. Er ist ein emphatischer Text, der davon handelt, was Menschen gemeinsam bewegen können – und es ist die neue Generation, zu der auch der chilenische Präsident Gabriel Boric gehört, die, womöglich in radikalem Bruch mit der älteren Generation, diese neue Zeit gestalten wird und muss.
Chiles Verfassungsprozess war damit nur ein Zwischenstadium, eine Phase im globalen Kampf für eine andere, gerechtere Ordnung. Das US-Magazin Time, um hier auch etwas Positives zu sagen, hat das erkannt und Boric aufs Titelbild gebracht. „Die neue Garde“ ist die Zeile, Boric schaut ernst und entschlossen, die Apple-Watch an einem Arm, ein großes Tattoo am anderen Arm. Die neue Zeit hat längst begonnen.
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