Verfassungsrechtler über Corona-Demos: „Die Demokratie besser schützen“

Hans-Jürgen Papier bemängelt die Rechtsgrundlagen für die Einschränkung der Grundrechte. Der Protest der Corona-Skeptiker sei dennoch total überzogen.

Ein Mann und eine Frau laufen über das auf das Pflaster gemalte Wort "Abstand"

„Es kann kein Faustrecht geben, wo jeder für sich entscheidet, was ihm angeblich zusteht“ Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Herr Papier, Sie haben sich in der Coronakrise schon früh um die Grundrechte gesorgt. Am Wochenende wird erneut bundesweit gegen die Einschränkungen demonstriert. Sind Sie mit dabei?

Nein.

Haben Sie Verständnis für die Demonstrationen?

Ich habe Verständnis für alle, die sich fragen, ob die Freiheitsrechte unserer Verfassung noch hinreichend gewahrt sind. Wir haben in den letzten Monaten eine Einschränkung unserer Grundrechte erlebt, wie wir es uns wohl nie vorstellen konnten.

Viele Demonstranten glauben, der Staat und die Virologen übertreiben die Wirkung des Coronavirus bewusst, um Grundrechte einschränken zu können. Sehen Sie das auch so?

Nein, zu dieser Art von Kritikern gehöre ich nicht. Es war mir immer wichtig, sachlich und differenziert zu argumentieren.

Was halten Sie von Parolen wie „Wenn wir heute den Widerstand verschlafen, wachen wir morgen in der Diktatur auf“?

So etwas halte ich für total überzogen. Wer den Rechtsstaat schützen will, darf nicht auf Freiheitsrechte ohne Gemeinwohlbindung pochen. Es kann kein Faustrecht geben, wo jeder für sich entscheidet, was ihm angeblich zusteht. Auch Grundrechte sind im Interesse der Allgemeinheit einschränkbar. Die Einschränkung muss aber stets verhältnismäßig sein. Darüber entscheiden die Gerichte.

War der Shutdown, also das Herunterfahren des gesamten gesellschaftlichen Lebens, verhältnismäßig?

Die massiven Maßnahmen Mitte März waren am Anfang wohl erforderlich und angemessen, insbesondere weil die Gefahr bestand, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Aber die Entwicklung ist dynamisch. Inzwischen ist die Infektionsrate stark gefallen und die Gesundheitsämter haben mehr Personal, um Infektionswege nachzuverfolgen.

Die Gerichte haben ja schon im April reagiert, haben Ausnahmen vom Demonstrations- und vom Gottesdienstverbot zugelassen...

Der 76-Jährige war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Davor und danach hatte er eine Professur für Öffentliches Recht an der Uni München inne.

Das zeigt, dass unser Rechtsstaat sich letztlich auch in schwierigen Zeiten durchsetzen kann.

Inzwischen lockert auch die Politik die harten Zügel immer mehr, sie öffnet Schulen, Geschäfte und Gaststätten. Sind Sie zufrieden?

Ich habe immer gesagt: Nicht die Lockerungen sind angesichts der Grundrechte rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung der Maßnahmen. Das scheint die Politik nun im Großen und Ganzen zu berücksichtigen. Für die Zukunft müssen wir aber die Demokratie besser schützen.

Wo sehen Sie Bedarf?

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen alle wesentlichen Entscheidungen, etwa zur Grundrechtsausübung, von demokratisch gewählten Parlamenten getroffen werden. Das war in den letzten Monaten nicht der Fall. Die Einschränkungen beruhten vor allem auf Rechtsverordnungen der Landesregierungen. Die Parlamente – und damit auch die Opposition – waren an den Rand gedrängt.

Alle Schutzmaßnahmen stützten sich auf das Infektionsschutzgesetz, ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz. Genügt das nicht?

Nein. In diesem Gesetz ist der Shutdown nicht ausdrücklich vorgesehen. Eine so massive Einschränkung des öffentlichen Lebens sollte nicht auf eine Generalklausel gestützt werden. Hierfür brauchen wir klare und eindeutige Rechtsgrundlagen. Außerdem sollte ein bundesweiter Shutdown künftig vom Bundestag beschlossen werden und nicht von den 16 Landesregierungen. Das würde auch die Akzeptanz verbessern.

Das wäre dann aber nicht nur eine Demokratisierung, sondern auch eine Zentralisierung?

Sie wissen, ich bin ein großer Freund des Föderalismus, aber bei einer Epidemie von nationaler Tragweite sollten grundlegende Weichenstellungen vom Bundestag getroffen werden und nicht von Landesregierungen.

Ganz Deutschland im Gleichschritt?

Öffnungsklauseln könnten und sollten regionale Abweichungen durchaus ermöglichen. Aber auch dann sollten Landesregierungen nicht allein entscheiden. Je länger eine Regelung in Kraft ist, umso wichtiger werden Beratung und Zustimmung des jeweiligen Landtags.

Was ist mit den wirtschaftlichen Schäden? Wer muss für sie aufkommen?

Das ist bisher unzulänglich geregelt. Das Infektionsschutzgesetz sieht nur in bestimmten Fällen Entschädigungen vor, etwa wenn ein Ansteckungsverdächtiger in Quarantäne muss und deshalb Verdienstausfall hat. Es gibt aber keinen gesetzlichen Anspruch etwa für Ladenbesitzer und Gastronomen, die im Zuge des Shutdowns vorsorglich schließen mussten. Hier hat der Gesetzgeber nachzubessern. Hilfsprogramme ohne Rechtsanspruch genügen nicht.

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