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Verfassungsgericht zum WahlrechtGeneralabrechnung in Karlsruhe

Grüne, Linke und FDP klagten gegen das aktuelle Bundestagswahlgesetz. Das Bundesverfassungsgericht nutzte das Verfahren für Grundsatzkritik.

„Wo ist die Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem Anwalt erklären lassen muss?“, fragte Richter Müller Foto: Michael SChick/imago

Karlsruhe taz | Das Bundesverfassungsgericht neigt dazu, alle Wahlgesetze für verfassungswidrig zu erklären, die durchschnittliche Bür­ge­r:in­nen beim Lesen nicht verstehen. Das zeichnete sich in Karlsruhe bei der mündlichen Verhandlung um das aktuelle Bundeswahlgesetz am Dienstag ab.

Eigentlich ging es um das bislang noch geltende Bundeswahlgesetz, auf dessen Grundlage der derzeitige Bundestag gewählt wurde und das bald wohl noch einmal für eine Wiederholungswahl in Berliner Wahlkreisen zum Einsatz kommt.

Das Gesetz war 2020 von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossen worden. 216 Abgeordnete von Grünen, Linken und FDP klagten damals per Normenkontrolle dagegen, weil es die CDU/CSU leicht bevorzuge, indem drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Juristisches Hauptargument der damaligen Opposition war, das Gesetz sei nicht „normenklar“. So sei uneindeutig, ob es um drei Mandate bundesweit oder pro Bundesland gehe.

Grundsatzurteil möglich

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat aus dieser Klage nun eine Generalabrechnung mit allen bestehenden und künftigen Wahlgesetzen gemacht. Der federführende Richter Peter Müller erinnerte daran, dass Karlsruhe schon oft verständlichere Wahlgesetze angemahnt hat.

Jetzt plant er wohl ein Grundsatzurteil, wonach Wahlgesetze immer dann gegen das Demokratieprinzip verstoßen, wenn Bür­ge­r:in­nen sie beim Lesen nicht verstehen. Schließlich verwirkliche sich im Demokratieprinzip die Menschenwürde, weil es Selbstbestimmung ermögliche. „Aber wo ist die Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem Anwalt erklären lassen muss?“, fragte Richter Müller.

Viele hatten sich von der Karlsruher Verhandlung über das Wahlgesetz offene oder versteckte Randbemerkungen zum neuen, im März beschlossene Wahlgesetz erhofft. Dort war der Bundestag auf Kosten von Direktmandaten verkleinert worden und außerdem zu Lasten der Linken und der CSU die Grundmandateklausel gestrichen worden. Doch in den ersten Stunden spielte das keine Rolle. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht mit Müllers Ansatz Ernst macht, dann ist kein Wahlgesetz in Bund und Ländern mehr verfassungskonform. Alle Wahlgesetze müssten neu beschlossen werden.

Rechtsprofessor Bernd Grzeszick, der den Bundestag vertrat, zeigte sich erstaunt. Die Bundestagswahl 2021 sei doch problemlos verlaufen (außer in Berlin, doch das hatte andere Gründe). Alle hätten grob gewusst, wie die Wahl funktioniert: dass es Stimmen für die Partei gibt und Stimmen für die Wahlkreisbewerber:innen. Alle technischen Details, wie die Stimmen dann im Mandate umgerechnet werden, interessierten die meisten Bür­ge­r:in­nen doch überhaupt nicht. Solche Normen richteten sich nur an die Wahlbehörden.

Warnung vor „populistischen Missverständnis“

Für die Bundesregierung stimmte Rechtsprofessor Heinrich Lang zu. „Wer liest schon Paragraf 6 des Bundeswahlgesetzes, bevor er wählen geht?“ Auch er hielt es für ausreichend, wenn die Bür­ge­r:in­nen die Grundzüge des Wahlrechts verstehen.

Die geladenen Sachverständigen warnten das Verfassungsgericht ebenfalls. „Die Laienperspektive ist im Wahlrecht wenig geeignet“, sagte Martin Morlok, der jahrzehntelang führende deutsche Wahlrechtler. Die Umsetzung von Millionen Stimmen in konkrete Mandate setze nun mal komplizierte mathematische Verfahren voraus.

Rechtsprofessor Emanuel V. Towfigh wurde grundsätzlich: „Die Rechtslage ist in einer modernen Gesellschaft notwendigerweise komplex.“ Die Gesetzgebung könne nicht so simpel sein, dass alle Bür­ge­r:in­nen sie verstehen. Wenn es darauf ankomme, müsse man sich eben beraten lassen. Er warnte vor dem „populistischen Missverständnis“, dass eine abgehobene Juristenkaste die Bür­ge­r:in­nen an den Rand schiebe.

Im Lauf der Verhandlung zeigte sich jedoch, dass Richter Müller im Zweiten Senat breit unterstützt wird. Das Urteil wird in einigen Wochen verkündet.

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13 Kommentare

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  • Meine Meinung



    Schwierig wird es, wenn eine Demokratisch direkt gewählte Person nicht die Interessen der Wähler, aufgrund irgendeiner Formel oder ähnlichen vertreten kann/darf..

    • @Hans Horst:

      *hust* Fraktionszwang *hust*



      Um mal Artikel 38 des Grundgesetztes teilweise zu zitieren:



      " (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

  • "Jetzt plant er wohl ein Grundsatzurteil, wonach Wahlgesetze immer dann gegen das Demokratieprinzip verstoßen, wenn Bür­ge­r:in­nen sie beim Lesen nicht verstehen."

    Beim immer mehr sinkenden Bildungsstand in Deutschland - insbesondere dem stark abnehmenden Textverständnis - ist das eine interessante Aussage.

  • „Aber wo ist die Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem Anwalt erklären lassen muss?“, fragte Richter Müller.



    Eine gute und berechtigte Frage. Denn Unklarheiten bei Wahlen, öffnen Vorwürfen wie in den USA (die Wahl wurde gestohlen!) Tür und Tor.

    „Alle technischen Details, wie die Stimmen dann im Mandate umgerechnet werden, interessierten die meisten Bürger:innen doch überhaupt nicht.“ sic



    So eine Einschätzung von einem Rechtsprofessor, finde ich mehr als bedenklich.



    Denn wenn es plötzlich, wie bei früheren Bundestagswahlen dazu kommt, dass eine Partei, wenn sie 10 000 Stimmen WENIGER in einem Bundesland geholt hätte, ein Ausgleichsmandat MEHR erhalten hätte, dann ist das eine gewaltige Schieflage.



    Auch jammern die Parteien ja jetzt herum, mit der Nichtbeachtung der Direktmandate, würde der Wählerwille missachtet.



    Bisher war der Wählerwille den Parteien wie ich das sehe nur dann wichtig, wenn man sie wählte.



    So war Wolfgang Tiefensee (SPD) von 2009 bis 2014 Bundestagsmitglied. 2009 und 2013 war er Direktkandidat im Wahlkreis Leipzig II. Beide Male verlor er den Wahlkreis, die Leipziger wollten ihn offensichtlich nicht als Direktkandidat. In den Bundestag kam er trotzdem, dank der Landesliste.



    Man hätte Tiefensee also nur abwählen können als Bundestagsmitglied, wenn niemand in Sachsen die SPD gewählt hätte. Das nenne ich mal Respekt vor dem Wählerwillen…



    Und von der Regionalpartei CSU, die gerne „Bayern Bayern über alles“ stellen würde und die in 15 von 16 Bundesländern nicht einmal gewählt werden kann, fange ich jetzt gar nicht erst an.



    Nur eines kann ich mir nicht verkneifen. Eine BAYERNpartei, hat im BUNDEStag nichts zu suchen.



    Schließlich soll dieser ja niemanden bevorzugen.

  • @friderike, sorry, aber schon ziemlich primitiv argumentiert: 1. "Ein paar mehr (weniger gibts nicht)" hat sich inzwischen auf stolze 23% ausgewachsen. Bekommen Sie jetzt 23% mehr Lohn? 2. Ein "Direktmandat" (Beispiel CSU) mit 25% der Stimmen bei 60% Wahlbeteiligung trägt nichts zur Demokratie bei. 3. D hat meiner Kenntnis nach das weltweit größte Parlament, aber kommt im Einwohnerranking an Stelle 19. 4. Nach wie vor nutzen viele Abgeordnete ihren Status für üppige Nebenverdienste, z.B. Wagenknecht, früher Linndner oder Steinbrück. Je weniger Abgeordnete, desto weniger Missbrauch. 4. Peter Müllers Ansicht ist schon sehr extrem, nicht verwunderlich, einer, der unter Merkel nichts zu sagen bekam (MP im winzigen Saarland). Dazu kommt eine nicht vollendete Doktorarbeit. So etwas wirkt sich im fortgeschrittenen Alter leider (negativ) aus. 5. 17 neue (verständliche??) Wahlgesetze sind Wahnsinn der Realität sehr entfremdeter typischer Juristen, von denen es leider zu viele gibt. 6. Wahnsinn deshalb, weil Jurist und verständlich grundsätzlich ein Widerspruch ist. Gefühlte 20% der Juristen in D wären völlig überflüssig, wenn verständlicher (müllersch) gearbeitet würde. Die könnten allesamt den Lehrkräftemangel beheben.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Verständliche Rechtstexte also...



    ...wie "Die Menschenwürde ist unantastbar."



    Zu 70% versteht sich.

  • Das ist ein guter Ansatz. Alle Gesetze sollten einfach und verständlich sein. Das ganze juristische formulieren und verklausurieren ist äußerst exklusiv und lässt die Vermutung zu, dass hier bewusst Dinge unverständlich gemacht werden sollen. Siehe Steuerrecht. In Estland gilt einfach 20% auf alles mit ein paar Ausnahmen für Unternehmen etc. wenn mich nicht alles irrt. Schön einfach.

  • "Er warnte vor dem „populistischen Missverständnis“, dass eine abgehobene Juristenkaste die Bür­ge­r:in­nen an den Rand schiebe."

    Soviel Blödsinn muss man erstmal in einen Satz fügen, wenn die Verständlichkeit des Wahlrechtes zur Diskussion steht.

  • Das Baden-Württembergische Kommunalwahlrecht ist für Uneingeweihte nur schwer zu verstehen, aber die demokratischste aller Varianten die ich kenne.

    Nur bei uns muss ein Kandidat nicht nur auf der Liste stehen, sondern muss auch noch ausreichend Stimmen bekommen.



    Da kann auch der Letzte noch die Erste werden (wenn die Leute die Person kennen).

    Das möchte ich nicht ehrlich gesagt verlieren.

  • Was ich dem werten hochabgehobenen „Rechtsprofessor Emanuel V. Towfigh” grundsätzlich ausrichten möchte, darf ich hier leider nicht schreiben. Es geriete zu einem Grobverstoss wider die Nettiquette.



    Jedenfalls aber: Danke, Richter Müller.

  • Au Backe. Was steht denn da ins Haus?!



    Ok Ok. Bin naturellement befangen! But.



    Aber. Hätt ich die Wahl:



    Der juristisch vorrangig zivilrechtlich ausgewiesene exMP Peter Müller?!



    vl



    Mein verfassungs-partei&wahlrechtlich ausgewiesene Seminarkumpel?!



    Liggers. Ich bräuchte nicht ins Gesetz zu schauen •



    Nö. Normal nich.

    • @Lowandorder:

      ich kann der MüllerschenIdee schon was abgewinnen.

      Das Ergebnis muss ja nicht einfälig werden.



      Nur solltren die Ergebnisse eindeutig sein.

      Und ich sags noch mal:

      Ich verstehe nicht warum ein paar mehr oder weniger Überhangs- und Ausgleichmandate so viel Aufhebens machen.



      Das einzige Problem ist doch, dass die Männeken und Weibekens im Plenum etwas enger zusammenrücken müssen.



      Wenn ich mir aber das Londoner Unterhaus ansehe, immerhin das älteste bestehende Parlament, dann sollte das doch zumutbar sein.

      Und komme mir niemand mit den Kosten:



      Demokratie kostet eben Geld.



      Wer keine will, muss das Geld in Sicherheitsapparate investieren wie wir gerade beim rechten linken Zaren sehen.

      Wer will das schon.

      • @Friderike Graebert:

        Geschätzte. Alles Müller oder was?



        Na ich weiß ja nicht - steck da aber nicht genügend drin (daher der Spott) - wa!



        Worauf genau das hinausläuft. Gelle.



        Nur ist mir ein Martin Morlok - ohne den ich bis heute Habermas & Luhmann nicht begriffen hätte - ein in der Wolle gefärbter Demokrat und - der profundere Denker.

        Das britische Unterhaus hat 650 Mitglieder & Ja - dieses Aufeinanderhocken gefällt mir via Streitkultur auch ganz prima!



        Und ob diese paar Überhangsmandate in echt das Problem sind - darf - zumal demokratisch anrüchig - bezweifelt werden! Woll. But.

        Das nämlich - “Im Juli 2014 wurde Müller von seinen Richterkollegen einstimmig zum Berichterstatter des Dezernats „Wahlen und Parteienrecht“ gewählt.“ & seine hier skizzierten Ansätze deuten mir in eine etwas “breiter angelegte Richtung.“



        Nämlich die demokratische Legitimation des/der Parlaments/Abgeordneten erhöhen - zu Lasten der Exekutive.



        (Wie genau - derzeit koa Ahnung nich!)

        Es ist ja hinlänglich bekannt - daß innerhalb des Verfassungsgerichts Konsens besteht - daß seine Rechtsprechung zu Parlament Abgeordneten Parteien Fraktionen “verunglückt“ / “aus dem Ruder gelaufen ist in den Folgen“ zulasten der Wirksamkeit des Parlaments!



        Und eine Korrektur lediglich mangels Gelegenheiten/Verfahren bisher unterblieben ist. Gellewelle.



        & Däh! Jetzt aber vielleicht - en peu?!



        (ps ☕️☕️☕️satzleserei? May be. But.



        Look and see - 🙀🥳 - ;)

        unterm——servíce —-



        de.wikipedia.org/w...terpr%C3%A4sident)