Vasektomie in den USA: Verhütung endlich Männersache
Seit der Abschaffung des Rechts auf Abtreibung lassen sich in den USA immer mehr Männer sterilisieren. Damit leisten sie einen Beitrag zur Gleichberechtigung.
W er John Curingtons Büro betritt, bekommt als Erstes einen Gummihoden in die Hand gedrückt. „Hier, spüren Sie den Samenleiter?“, fragt der 57-Jährige, während seine Finger über das detailgetreue Modell gleiten. Dann ergreift er zwei scherenartige Werkzeuge, fixiert den „Samenleiter“ – und schnipp! „Zwei kleine Schnitte“, sagt der Urologe, „und nach 15 Minuten ist alles vorbei. Noch Fragen?“
Curington leitet mit seinem Kollegen Douglas Stein eine Vasektomiepraxis in der Großstadt Tampa in Florida. Sie sterilisieren Männer. Über ausbleibende Kundschaft konnten sich die beiden Mediziner noch nie beschweren. Seit aber das Oberste Gericht 2022 in den USA das generelle Recht auf Abtreibung gekippt hat, kann sich die Praxis vor Anfragen kaum noch retten.
„Dieses Urteil war ein Schock“, sagt Curington. „Viele Paare haben Angst, dass als Nächstes auch noch der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt wird.“ Völlig aus der Luft gegriffen scheint diese Sorge nicht: So schrieb Richter Thomas Clarence in seiner Urteilsbegründung, frühere Entscheidungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Verhütung sollten „überdacht“ werden. Urologe Curington leitet daraus ab, dass es neben Enthaltsamkeit demnächst vielleicht nur noch eine sichere Methode gibt, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern: eine Vasektomie.
Tatsächlich lassen sich in den USA seit dem Gerichtsurteil mehr Männer sterilisieren als zuvor. Laut einer Umfrage der New York Times bei Urologinnen und Urologen schnellt die Nachfrage nach der Operation deutlich nach oben. Es ist ein Phänomen, das sich quer durchs Land zieht. Einen besonders großen Andrang gibt es aber in konservativen Bundesstaaten, die sofort nach dem Urteil jegliche Abtreibung verboten haben. So berichtet eine Praxis in Oklahoma von einer Verdopplung der täglichen Sterilisierungen – Oklahoma ist ein Bundesstaat mit besonders strengen Regelungen. Dort dürfen Frauen selbst nach Inzest oder einer Vergewaltigung nicht abtreiben.
Douglas Stein, der zweite Urologe in der Vasektomiepraxis, ist deshalb überzeugt: „Verhütung wird immer mehr zur Männersache.“ Stein hat schon Zehntausende von Sterilisierungen durchgeführt. „Früher“, sagt der 69-Jährige, „war das Ganze noch mit einem gewissen Stigma behaftet.“ Geburtenkontrolle sei generell als Frauendomäne betrachtet worden, auch in langjährigen Beziehungen. Männer, die sich selbst zeugungsunfähig machen? Eine Ausnahme, fast schon ein Angriff aufs Selbstbild.
In den vergangenen Jahren hat sich laut Stein aber etwas verändert. „Die Menschen machen sich immer mehr Gedanken zu Übervölkerung, Klimaschutz und Verhütung“, sagt der Mediziner. Das Urteil des Supreme Court hätte das Fass nun zum Überlaufen gebracht. „Wer weiß, was sich konservative Politiker als Nächstes einfallen lassen“, sagt Stein.
Die Folge: Kamen früher vor allem Männer über 40 zu ihm, die ihre Familienplanung beenden wollten, melden sich nun immer mehr junge, kinderlose Herren. „Das Durchschnittsalter geht zurück“, sagt Stein. Auch er spricht offen darüber, dass er sterilisiert ist, genau wie sein Kollege John Curington.
Zwischen 20 und 30 Vasektomien nehmen die beiden Mediziner täglich vor. An diesem Tag liegt Dave Cretul im OP-Saal, ein Software-Entwickler aus Florida. Ein bisschen aufgeregt sei er ja schon, räumt der 33-Jährige ein. So geht es vielen. Urologe Stein versucht deshalb schon auf seiner Website, potenzielle Patienten zu beruhigen: Keine Veränderung der Libido! Keine Veränderung des Orgasmus! Keine Veränderung der Erektionen! Den Behandlungsraum hat er so eingerichtet, dass er möglichst wenig bedrohlich wirkt: nicht wie ein OP-Saal im Krankenhaus, eher wie ein Zimmer beim Zahnarzt. An den Wänden hängen Gemälde, die Jalousien sind heruntergelassen und tauchen den Raum in ein schummeriges Licht.
Damit der Operateur trotzdem etwas sieht, beleuchtet eine Stehlampe den Unterleib von Dave Cretul. Kaum hat dieser seine Hose heruntergelassen, schreitet Urologe Stein zur Tat: Nachdem er den Penis mit einem Gummiband am Bauch seines Patienten fixiert hat, sprüht er den Hodensack mit einer Desinfektionsflüssigkeit ein. „Das wird jetzt ein bisschen warm“, erklärt Stein, „und gleich zwickt es. Das ist die Betäubungsspritze.“ Patient Cretul liegt mit verschränkten Armen auf der Liege, sein Ehering glänzt unter der OP-Lampe, der Geruch der Desinfektionslösung wabert durch den engen Raum.
Dann zwickt auch schon die Schere. Ein kurzer Schnipp, fertig. „Haben Sie etwas gemerkt? Ist Ihnen schwindelig?“ Als Cretul beides verneint, kann er wieder aufstehen. Das Uber wartet bereits vor der Tür, die OP hat keine halbe Stunde gedauert. Bevor Cretul geht, bläut ihm Stein noch einmal die wichtigsten Regeln ein: Ruhe am Abend, Duschen erst am nächsten Morgen, Sex frühstens in zwei Tagen. Schmerzen, Anschwellungen, Blut im Sperma: alles möglich, aber kein Grund zur Sorge. „Es ist völlig normal, dass es sich die ersten Tage etwas unangenehm anfühlt“, sagt Stein.
Warum der junge Mann das alles in Kauf nimmt? „Meine Frau und ich wollten nie Kids“, betont Cretul, „und da dachte ich, ich ziehe das jetzt durch. Meine Frau nimmt schon lange die Pille. Da kann ich doch auch meinen Teil mal beisteuern.“ Ob Liebesbeweis, Verantwortungsgefühl oder ein Akt der Gleichberechtigung: Wenn US-Medien über den aktuellen Vasektomietrend berichten, ist immer wieder von den gleichen Faktoren die Rede, die Männer zu diesem Schritt motivieren. Und natürlich die Abtreibungsverbote, die über allem schweben.
Während Schwangerschaftsabbrüche aber für viele Konservative eine Todsünde darstellen, ist der große Aufschrei gegen Sterilisierungen bislang ausgeblieben. Zwar gibt es durchaus Stimmen, die Vasektomien als „unnatürlich“ bezeichnen. Doch selbst die leidenschaftlichsten Abtreibungsgegner haben offenbar kein Problem damit, wenn weniger Kinder auf die Welt kommen – solange es der Mann ist, der darüber bestimmt. Und solange es um ein noch nicht gezeugtes Leben geht: „Wir haben keine bestimmte Haltung zu allem, was die Befruchtung verhindert“, erklärt eine Sprecherin des Anti-Abtreibungs-Verbands National Right to Life in einem Interview mit der britischen Tageszeitung Guardian. Man setze sich nur gegen „jegliche Mittel und Medikamente ein, die ein Leben zerstören, das bereits gezeugt wurde“.
Manchmal geht es allerdings auch heftiger zur Sache. Zum Beispiel in Alabama: Vor drei Jahren hatte die demokratische Abgeordnete Rolanda Hollis dort die Idee, Männer ab 50 Jahren zwangsweise zu sterilisieren. Der Gesetzesvorschlag war eine Reaktion auf die damals schon rigorosen Abtreibungsregeln in Alabama. Eine Mehrheit fand sie dafür nicht, wohl aber Aufmerksamkeit: Der bekannte republikanische Senator Ted Cruz empörte sich bei Twitter über den Vorschlag. Das Ganze war schnell wieder vergessen, beleuchtet aber einen Aspekt, der bei Vasektomien manchmal immer noch mitschwingt: Eugenik. Nicht nur in Nazideutschland gab es in den 1930er-Jahren viele Befürworter dieser „Geburtenkontrolle“ – auch in den USA wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts bis zu 70.000 Personen zwangssterilisiert. Neben Menschen mit Behinderung waren vor allem Schwarze Frauen und Native Americans betroffen.
Im heutigen Vasektomiealltag spielt dieses dunkle Kapitel der Geschichte kaum noch eine Rolle. Im Hier und Jetzt geht es eher ums Geld. Knapp 600 Dollar müssen Männer für den Eingriff bei den Urologen in Florida zahlen, die meisten Krankenkassen übernehmen die Kosten. Zum Vergleich: Laut der NGO Planned Parenthood müssen Frauen zwischen 0 und 50 Dollar im Monat für die Antibabypille bezahlen, je nach Krankenversicherung. Doch die haben gerade viele ärmere Menschen in den USA nicht. Ob Abtreibung oder Sterilisierung, ob Frau oder Mann – am Ende entscheidet also der Geldbeutel, wer sich eine Barzahlung beim Arzt oder eine Fahrt in den nächsten Bundesstaat leisten kann, wo Abtreibungen vielleicht noch erlaubt sind.
Bei Douglas Stein und John Curington ist die Nachfrage inzwischen so hoch, dass Patienten auf eine Warteliste kommen. Rund drei Monate dauert es, bis sie einen Termin bekommen. Stein hat den „World Vasectomy Day“ mit ins Leben gerufen; entlang der Highways wirbt er auf großen Plakaten für seine Dienste – er ist so umtriebig, dass ihm amerikanische Medien den Titel „Vasektomiekönig“ verliehen haben.
„Aber“, sagt Stein, „es ist eben auch eine Entscheidung, die man nicht leichtfertig treffen sollte. Bei jungen Männern frage ich immer nach, ob sie sich wirklich sicher sind.“ Vasektomien lassen sich in der Regel rückgängig machen. Auch diese Prozedur bietet Stein an. Sie ist allerdings aufwendiger und kostet fast 6.000 Dollar. Und: Eine Garantie, dass Männer danach wieder Kinder zeugen können, gibt es nicht.
Stein selbst hadert ohnehin mit einer solchen Operation: „Von einem ethischen Standpunkt aus fühle ich mich einfach nicht wohl, diese Reversals (Rückgängigmachungen) bei Paaren mit mehr als drei Kindern durchzuführen“, schreibt er auf seiner Homepage. Schon heute lebten über acht Milliarden Menschen auf der Welt. Überfüllte Strände, Staus, Umweltprobleme: Stein listet allerlei Gründe auf, warum es für die Menschheit besser sei, den eigenen Fortpflanzungstrieb zu bändigen. „Zusätzliche Kinder führen zu mehr Stress und treiben Paare auseinander, statt sie zusammenzubringen“, behauptet der Urologe. Den Beweis dafür bleibt er schuldig, die Botschaft ist trotzdem klar: Der Vasektomiekönig sterilisiert lieber, als dass er den Eingriff rückgängig macht.
Sind Vasektomien bei Männern vielleicht nur ein kurzfristiger Trend? Oder weist der aktuelle Ansturm auf langfristige gesellschaftliche Veränderungen hin? Fest steht, dass sich in der Vergangenheit rund 500.000 US-Amerikaner jährlich haben sterilisieren lassen. Zwischen 2002 und 2017 gingen die Zahlen leicht zurück, wie ein Paper der Stanford University darlegt. Die Forschenden weisen darauf hin, dass die Werte schwanken: So gab es während der Finanzkrise zwischen 2007 und 2009 einen Anstieg um 34 Prozent – wirtschaftliche Erwägungen spielen bei der Familienplanung also offenbar nach wie vor die Hauptrolle.
Wenn Internettrends ein Anhaltspunkt sind, dann müssen sich Urologiepraxen jedenfalls keine Sorgen machen. Der TV-Sender Fox11 berichtet, dass am Tag des Gerichtsurteils zum Abtreibungsrecht die Frage „Wo bekomme ich eine Vasektomie?“ um 850 Prozent häufiger gegoogelt wurde als zuvor. Die meisten Anfragen kamen demnach aus Texas und Florida. Auch in den sozialen Netzwerken ist die Männerverhütung ein Thema: Bei Snapchat wurden Videos mit dem Hashtag „Vasectomy“ rund 300 Millionen Mal aufgerufen. Der Hashtag „snipsniphooray“ („Schnipp, Schnipp, Hurra“) kommt auf über 30 Millionen Aufrufe. Auch auf Datingplattformen taucht der Begriff „Vasektomie“ häufiger auf – bei Tinder etwa fünfmal mehr als noch ein Jahr zuvor, wie die New York Times berichtet.
Einige Urologinnen und Urologen haben sich in den USA bereits auf die steigende Nachfrage eingestellt. In Iowa gibt es eine mobile Vasektomieklinik, eine Art Wohnwagen, der von einem Pick-up-Truck gezogen wird. Der rollende OP-Saal soll Männern im ländlichen Raum, die keine Vasektomieklinik in der Nähe haben, einen Zugang zu der Dienstleistung bieten.
Der Mann, der den Pick-up steuert und später zur Schere greift, heißt Esgar Guarín. „In den USA lassen sich dreimal mehr Frauen sterilisieren als Männer“, sagt der 45-jährige Urologe am Telefon. „Dabei ist die Prozedur bei ihnen riskanter und auch deutlich teurer.“ Einmal im Monat fährt Guarín deshalb mit seinem OP-Anhänger durch den Mittleren Westen, 750 Meilen, von einem Supermarktparkplatz zum nächsten. Als die taz mit ihm telefoniert, ist er gerade in der Hauptstadt Des Moines unterwegs. Guaríns Zielgruppe: Männer.
„Hupe, wenn du eine Vasektomie hattest“, steht auf seinem Anhänger. Tatsächlich hupten immer mal wieder Leute, erzählt Guarín. „Manchmal sehe ich aber auch einen Stinkefinger.“ Doch selbst bibeltreue Christen hätten meist nichts gegen seine Arbeit. „Warum auch?“, fragt Guarín. „Wer mich kritisieren will, soll erst mal beweisen, dass Republikaner anders ejakulieren als Demokraten.“ Das männliche Sperma – hier überbrückt es politische Gräben.
Auch Guarín bestätigt den Trend, dass mit der Zahl der Abtreibungsverbote die Zahl seiner Interessenten zugenommen hat. „Früher habe ich im Schnitt etwa 40 Vasektomien pro Monat durchgeführt“, sagt Guarín. „Nach dem Urteil des Supreme Court waren es plötzlich doppelt so viele.“ Inzwischen sei der Andrang wieder etwas zurückgegangen, liege aber immer noch deutlich höher als vor dem Gerichtsentscheid.
Auch in Florida haben die „Vasektomiekönige“ deshalb aufgerüstet: Vor der Praxis verfrachtet John Curington mehrere Plastikboxen in den Kofferraum seines Teslas. Ausgestattet mit sterilen Tüchern, Scheren und Einmalhandschuhen fährt er quer durch den Bundesstaat, um Männer zu sterilisieren. Einen Anhänger wie in Iowa besitzt er nicht; stattdessen mietet er vor Ort Büros, um sie in provisorische OP-Säle zu verwandeln. „Manchmal“, sagt der Arzt, „komme ich auf bis zu 22 Eingriffe am Tag.“
Das Recht auf Kinderlosigkeit und sexuelle Selbstbestimmung – es ist auch ein Geschäftsmodell. In Entwicklungsländern hat der Urologe ebenfalls schon zur Schere gegriffen – zum Beispiel 2013 im Rahmen eines Freiwilligenprojekts auf den Philippinen. „Da kam es häufig vor, dass uns katholische Gruppen wegen unserer Arbeit angefeindet haben“, sagt Curington. In den USA habe er so etwas bisher nicht erlebt. „Noch nicht“, fügt der 57-Jährige hinzu. „Und dabei bleibt es hoffentlich auch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“