Unterwegs in Kiew: Tag für Tag Ungewissheit
In der ukrainischen Hauptstadt macht das stete russische Kriegsgetöse die Menschen mürbe. Bislang blieben die Angriffe aus – doch wie lange noch?
Mal ist der kalte Winter schuld, dann wieder „macht es kurz vor Neujahr auch keinen Sinn“. Wenig später ist es dann der Frühling, auf den man warten müsse, dann seien die Arbeitsbedingungen besser. Immer scheint der falsche Zeitpunkt für Reparaturen zu sein.
Die ganze Ukraine verharrt derzeit in einem Wartezustand. Westliche Politiker, Geheimdienste und Medien hatten für Mittwoch dieser Woche einen russischen Überfall prognostiziert. Der blieb aus. Doch kann man deshalb wieder zur Tagesordnung übergehen? Mitnichten. Die wenigsten Ukrainer haben geglaubt, dass Russland exakt am 16. Februar einmarschieren würde, als ließen sich Kriege mit genauem Datum Wochen vorher planen.
Aber prinzipiell schließt hier kaum einer einen Angriff aus. Der 16. Februar ist verstrichen, doch Entwarnung bedeutet das für die Menschen sicher nicht. Wer Geld hat, Verwandte im Ausland oder beides, setzt sich ins Flugzeug und fliegt erst mal weg.
Die ständigen Ankündigungen eines Luftangriffs und einer anschließenden Intervention haben bei den Menschen Spuren hinterlassen, sie ein weiteres Mal traumatisiert. Es bedurfte eines im Fernsehen übertragenen öffentlichen Appells von Präsident Wolodimir Selenski, um ukrainische Oligarchen, die sich auf und davon machen wollten, von ihrem Vorhaben abzuhalten.
In Babyn Jar
Andere wollen bleiben, hoffen auf eine Wende im Konflikt. Dariia Hirna und Wlad Krylewski, beide 27, hätten genug Kontakte und Möglichkeiten, um sich für ein paar Monate ins Ausland zurückzuziehen. Sie ist Journalistin und stammt aus dem westukrainischen Lwiw, er aus dem ostukrainischen Gorliwka. Gorliwka wird derzeit von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert.
Kurz nach dem Beginn der Kämpfe 2014 ist Krylewski mit seiner Familie von dort geflohen. Krylewski arbeitet in der Medienbranche, produziert Videos. Das Paar will bleiben. Sie wollen heiraten, eine Familie gründen. „Wir können doch nicht einfach unsere Freunde und Familie im Stich lassen“, sagt Hirna. Sollte Kiew wirklich brennen, werde man vielleicht nach Lwiw zu Verwandten gehen.
Nachdenklich spazieren die beiden durch den Gedächtnispark Babyn Jar. Hier sind am 29. und 30. September 1941 über 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder erschossen worden. Hirna und Krylewski bleiben einen Augenblick stehen. „Wenn man heute die Rhetorik einiger deutscher Regierungsbeamter hört, entsteht der Eindruck, als sei nur Russland Opfer des Hitlerfaschismus gewesen“, sagt Dariia Hirna. Es ist der 16. Februar, der Tag, für den der Einmarsch vorhergesagt worden war.
Wlad Krylewski, Videoproduzent aus Kiew
„Dieses Gefühl, Russland könnte uns angreifen, haben wir schon seit mehreren Jahren. Und seit Dezember vergangenen Jahres denken wir praktisch jeden Tag daran“, sagt Krylewski. „Viele von uns schaffen es, die Kriegsgefahr zu verdrängen. Tagsüber informiert man sich über den Zivilschutz, abends geht man in die Bars und vergisst alles, was mit Krieg zu tun hat“, sagt er.
Seine Freundin fügt hinzu: „Die ständige Ankündigung eines Krieges gegen uns hat mich mürbe gemacht. Ich bin so ausgebrannt, ich kann nicht einmal mehr richtig Angst haben. Ich kann mich auch nicht darüber freuen, dass heute alles ruhig war.“
Enttäuscht von Deutschland
Solange Russland bei seiner Tagesordnung bleibe, so lange werde auch der psychologische Druck weiter auf den Menschen lasten. Eigentlich glaubt Dariia Hirna nicht, dass Russland die Ukraine angreifen werde.
Die ukrainische Armee sei heute viel schlagkräftiger als 2014 und die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft unterstütze den Kurs Richtung Nato und Mitgliedschaft in der Europäischen Union. „Russland kann zwar angreifen, aber wenn die Bevölkerung mit den Besatzern nicht zusammenarbeitet“, so Hirna, „kann sich der Besatzer nicht lange halten“. Gleichwohl ist sie sich nicht ganz sicher. „Auch 2014 dachte ich, dass es keine bewaffneten Kämpfe geben würde.“
Von Deutschland sind beide enttäuscht. „Sicher, Deutschland ist der Ukraine nichts schuldig. Aber als eine führende Nation der EU ist Deutschland nicht nur inaktiv, sondern verhindert sogar Waffenlieferungen aus anderen Ländern an die Ukraine“, sagt Hirna. Und Krylewski findet es „merkwürdig“, dass Deutschland, das eine grüne Energiepolitik angekündigt hat, an einer Gaspipeline mit Russland festhalte, das eine „aggressive Besatzungspolitik gegenüber der Ukraine“ betreibe.
Das sei eine Politik doppelter Standards. Gerade nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, sagt Hirna, müsse Deutschland entschlossener und härter auftreten, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden.
Show must go on
Der Tag, an dem wir durch den Gedächtnispark gehen, ist kurzfristig zum Feiertag geworden. Denn Wolodimir Selenski, vor seiner Präsidentschaft im Showgeschäft aktiv, weiß, wie Inszenierung geht – er bestimmte den Tag, an dem eigentlich die Ukraine hätte angegriffen werden sollen, kurzerhand zum „Tag der Einheit“.
In allen Städten wird die ukrainische Nationalflagge gehisst, im Parlament stehen an diesem Tag die Abgeordneten einige Minuten mit der Flagge in der Hand. In den Schulen singen Kinder die Nationalhymne, in der Hafenstadt Mariupol, die Selenski an diesem Tag besucht, wird am höchsten Gebäude der Stadt die alte zerrissene Nationalflagge durch eine neue ersetzt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nicht überall stößt diese Art von Feiern und Show auf Gegenliebe. In einem Beitrag für das Portal gordonua.com macht sich der Redakteur der „Europäischen Prawda“, Serhij Sydorenko, über die Idee lustig, den möglichen Tag eines russischen Angriffs zum Feiertag zu erklären. Ihm erscheint dieser neue Feiertag sehr künstlich und aufgesetzt. „Patriotismus um zehn Uhr morgens, von oben angeordnet, das kann nicht klappen“ so Sydorenko.
All die, die trotz des ausgebliebenen russischen Angriffs nicht erleichtert aufatmen, scheinen leider recht zu bekommen. Die Nachrichtenlage spricht nicht für eine Entspannung. Verteidigungsminister Olexi Resnikow und Präsident Selenski erklärten, sie können nicht erkennen, dass sich die russischen Truppen von der Grenznähe zurückziehen würden.
Gleichzeitig eskalieren die Kämpfe wieder an der „Kontaktlinie“ im Donbass. So berichtet das russische Portal gazeta.ru unter Berufung auf Quellen in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk, die ukrainische Seite haben am frühen Donnerstag zivile Ziele in den von den „Volksrepubliken“ kontrollierten Ortschaften Kominternowo, Oktjabr, Nowolaspa, Solotoe-5, Nischnee Losowoje und Sokolniki beschossen.
Der Plan mit Donezk und Lugansk
Ukrainische Einheiten würden aus Granatwerfern und Mörsern zivile Ziele beschießen. Dagegen berichtet das ukrainische Portal nv.ua, am Donnerstagmorgen hätten die „russischen Besatzungskräfte“ die von Kiew kontrollierte Ortschaft Staniza Lugansk beschossen und dabei auch einen Kindergarten getroffen. Zwei Lehrkräfte seien leicht verletzt worden.
Am Freitag trat Verteidigungsminister Olexi Resnikow Gerüchten entgegen, die Ukraine würde versuchen, die von den Separatisten kontrollierten Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern. Sorgen machen der Ukraine Gebietsansprüche der „Volksrepubliken“ auf weitere Teile des Donbass. Denn die Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk sind größer als die Gebiete, die die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk kontrollieren.
Doch der Plan ist, die beiden Verwaltungsgebiete komplett an sich zu reißen. 2019 verabschiedeten beide „Republiken“ Gesetze, in denen sie ihren Anspruch auf die gesamten Verwaltungsgebiete beanspruchen. Dies bedeutet, dass zum Beispiel die Industriestadt Mariupol nach Lesart der Separatisten ebenfalls zur „Volksrepublik Donezk“ gehören müsse.
Und mit ihrer Bestimmung der „Unverletzlichkeit der Grenzen“ in diesen Gesetzen machen sie deutlich, dass sie notfalls auch bereit sind, jene Grenzen mit militärischer Gewalt festzusetzen.
Im Lauf des Freitags spitzte sich die Lage fast minütlich zu. Moskau kündigte zunächst eine Militärübung für Samstag an, Russland zog immer weiter Soldaten zusammen. Von nun schon bis zu 190.000 russischen Militärangehörigen an den Grenzen sprach der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter. Für die Ostukraine bewertet die OSZE die Kämpfe als die schwersten seit 2015.
Der Wartezustand geht weiter, auch in der Wohnung am Sewastopol-Platz. Die Sache mit dem bröckelnden Putz will der eingangs erwähnte Vermieter erst mal nicht angehen. „Wozu soll man jetzt diese Stellen nachbessern? Wenn Putin in zwei Wochen kommt, dann ist vielleicht die ganze Wand weg“, sagt er, ehe er die Miete einstreicht und von dannen zieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!