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Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal„Apokalypse“ war nicht absehbar

Malu Dreyer kann im Mainzer Untersuchungsausschuss die Vorwürfe der Opposition parieren. Die fordert aber weiter Anne Spiegels Rücktritt.

Frühere Umweltministerin von Rheinland-Pfalz und heutige Bundesfamilienministerin: Anne Spiegel Foto: dpa

Mainz taz | In der Nacht der Hochwasserkatastrophe vom 14. Juli hatte die rheinland-pfälzische Regierung keine realistische Einschätzung der gewaltigen Flutwelle, die allein im Ahrtal 134 Menschenleben kosten sollte. Bis zum Morgen des nächsten Tages sei ihr das „unvorstellbare Ausmaß“ der Zerstörungen nicht bewusst gewesen, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer, SPD, als Zeugin vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags in Mainz; schon gar nicht habe sie ahnen können, „dass der Katastrophenschutz zum Teil nicht funktionieren würde“, so die Ministerpräsidentin mit Blick auf die zweifelhafte Rolle des damaligen Landrats im Kreis Ahrweiler Jürgen Pföhler, CDU.

Gegen ihn und seinen Stellvertreter laufen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Der Landrat hatte die Einsatzleitung des Katastrophenschutzes auf den Stellvertreter übertragen. In seinem Landkreis wurde nach allgemeiner Einschätzung viel zu spät Katastrophenalarm ausgelöst. Viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Betroffenen früher gewarnt worden wären.

Vor dem Ausschuss hatte zuvor auch Dreyers Innenminister und Parteikollege, Roger Lewentz, versichert, er sei in der Flutnacht davon ausgegangen, Rheinland-Pfalz werde zwar von einem schweren aber beherrschbaren Hochwasserereignis heimgesucht. Auch ihm sei erst im Laufe des 15. Juli der Umfang der Schäden klar geworden. Bei ihrem Besuch im Katastrophengebiet am Morgen danach habe sie ein „apokalyptisches Schreckensbild“ erkennen müssen, dass sie „niemals abstreifen“ werde, sagte Dreyer.

Rekonstruktion widerlegt Vorwürfe

In der 15 Stunden währenden Marathonsitzung des Untersuchungsausschusses gelang es den beiden SPD-Regierungsmitgliedern und ihren MitarbeiterInnen, durch die Rekonstruktion der mündlichen und schriftlichen internen Kommunikation der Katastrophennacht den von der Landtagsopposition verbreitenden Eindruck zu widerlegen, die Landesregierung sei in der Nacht „schlafen gegangen“. Bis Mitternacht waren die Ministerpräsidentin und ihr Innenminister in engem Informationsaustausch und erreichbar gewesen. Am Morgen des 15. Juli hatten sie bereits ab sechs Uhr früh eine Agenda für die Unterrichtung des Landtags und der Öffentlichkeit sowie für die anlaufende Hilfe in den betroffenen Regionen entwickelt.

Besonders heftig hatte der neugewählte Generalsekretär der Landes-CDU, Patrick Schnieder, die Ministerpräsidentin angegriffen und damit den CDU-Wahlparteitag „elektrisiert“. Das berichtete jedenfalls die Regionalzeitung Rheinpfalz. Der Regierungschefin sei es am Morgen nach der Katastrophe „mit ihrer zweiten SMS“ vor allem darum gegangen, den SPD-Kanzlerkandidaten und Vizekanzler Olaf Scholz ins Katastrophengebiet einzuladen. Der Vorwurf eines billigen parteipolitischen Schachzugs fiel in Dreyers Zeugenvernehmung allerdings eher auf die CDU zurück.

Aus den Telefon- und SMS-Kontakten von Dreyer geht hervor, dass sie in zahlreichen Gesprächen und mit Textnachrichten längst ihren MitarbeiterInnenstab für ihre unter dem Eindruck der Krise geänderten Tagesplanung des 15. Juli instruiert hatte, dass sie Lageberichte und deren Aufbereitung für die anstehende Landtags- und die anschließende Sondersitzung des Ministerrats vorbereitet hatte.

Erst Stunden später hatte sich ihr Parteifreund, Vizekanzler Olaf Scholz, bei ihr gemeldet; sie sei ihm dankbar für die Unterstützung gewesen. Noch am selben Tag habe sie auch mit der in Washington weilenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, telefoniert und ihr für die zugesicherte Unterstützung des Landes durch den Bund gedankt, sagte sie. Auf den Angriff der CDU angesprochen sprach sie lapidar von „falschen Behauptungen“.

Mängel in der Kommunikation

Allerdings gab es auch im Rahmen des Ausschussmarathons Hinweise auf Mängel in der Kommunikation zwischen den für den Katastrophenschutz zuständigen Behörden und dem für die Hochwasserinformationen verantwortlichen grünen Umweltministerium, das damals die heutige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel geleitet hatte. Zwar gelangten während der Flut die aktuellen Pegelstände zuverlässig an die Technischen Einsatzleitungen der für den Katastrophenschutz zuständigen Landkreise. Doch der angeblich „ständige Austausch“ zwischen den Staatssekretären des Umwelt- und des Innenministeriums, von dem die Ministerin bei ihrer Befragung vor dem Ausschuss gesprochen hatte, war wohl doch nicht so eng.

Die von der damaligen Präsidentin des Landesamtes für Umwelt, Sabine Riewenherrn, am 14. Juli um 18.44 Uhr an den Umweltstaatssekretär abgesetzte Warnung „Hier bahnt sich eine Katastrophe an“ hatte jedenfalls weder den Innenminister noch die Ministerpräsidentin zeitnah erreicht, so deren Aussagen vor dem Ausschuss. Auch ein verzweifelter „Notruf“ der damaligen Verbandsbürgermeisterin von Altenahr, Carola Weigand, den Spiegels Staatssekretär an die Innenbehörden weitergegeben haben will, ist dort nicht protokolliert.

Spiegels Rücktritt gefordert

Als sachverständiger Zeuge war am Freitag der Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, Frank Roselieb, den Ausschussmitgliedern zugeschaltet. Er machte in erster Linie Landart Pföhler für Fehlentscheidungen in der Flutnacht verantwortlich, gab aber auch Ministerin Spiegel eine Mitschuld: „Da hat nach unserer Einschätzung die Führungsstärke gefehlt“, so der Krisenforscher.

Die Landtagsopposition forderte einmal mehr Spiegel dazu auf, ihr Berliner MinisterInnenamt niederzulegen. Die Freien Wähler nannten die Einschätzung des Krisenforschers als Begründung, die CDU hatte die Ausschusssitzung nicht einmal abgewartet. Nach dem Rücktritt der nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) sagte der rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Christian Baldauf am Nachmittag: „Der Rücktritt von Frau Heinen-Esser muss ein Vorbild für Anne Spiegel sein. Ihr Rücktritt ist längst überfällig.“

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3 Kommentare

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  • Anne Spiegel ist eine neue Generation Nimm-mit: 4 Wochen Sommerurlaub mit Familie in Frankreich während im Ahrtal die Katastrophe… nebenbei auch Wahlkampf. Als Führungskraft in Wirtschaft wäre sie schon dauerhaft beurlaubt.

  • „Apokalypse“ - war doch absehbar.

    Nach dem Hochwasser von 1804 reisten sogar französische Vermesser ins Ahrtahl um die Lage zu Dokumentieren, Karten anzufertigen, um im Falle eines Falls an Frankreich nicht an den falschen Stellen feste Gebäude zu errichten, wie es die Deutschen dort immer wieder getan haben.

    Auch Heute im 21. Jahrhundert geht Wiederaufbauhilfe an Grundbesitzer deren Grund höchstwahrscheinlich in Zukunft erneut überschwemmt wird. Nachhaltig wäre es ihnen diese nur auf sicherem Grund anzubieten, und dazu eben auch diesen Grund zu stellen.

    Landwirtschaftlich sind die Überschwemmungen auch dort wichtig, denn sie "beladdeln" die Böden, machen sie besonders fruchtbar.

  • Beim Hochwasser am 21. Juli 1804 starben 64 Menschen.



    Beim Hochwasser am 13. Juni 1910 starben 57 Menschen; danach mussten alle Ahr-Brücken – außer der Nepomukbrücke bei Rech – wiederaufge baut werden.

    2016. Jahrhunderthochwasser.

    Aktueller Fall. Seit elf Uhr Vormittag dringende Warnungen an die Behörden. Den ganzen Tag dann Verschärfungen.

    Ich kann das alles nicht mehr ernst nehmen.