Unterricht im ukrainischen Kriegsalltag: Schulglocken und Warnsirenen
Nach der langen Sommerpause beginnen auch in der Ukraine wieder Schule und Uni. Alles könnte sein wie immer – wenn da nicht der Krieg wäre.
![Kinder sitzen auf eine rtreppe und machen Schularbeiten. Kinder sitzen auf eine rtreppe und machen Schularbeiten.](https://taz.de/picture/6531477/14/33512082-1.jpeg)
S eptember ist in der Ukraine der Monat, in dem nach der langen Sommerpause der Klang von Schulglocken wieder zu hören ist. Seit anderthalb Jahren mischt sich der Glockenklang vielfach mit dem des Luftalarms. Am ersten Herbsttag begleite ich meinen Sohn zu seinem ersten Tag an der Universität. Die Straßen von Lwiw sind sonnendurchflutet. Lächelnde Schulkinder in Vyshyvankas, traditionell bestickten ukrainischen Hemden, kommen uns entgegen. Es ist, als sei alles wie immer und der Krieg nur ein böser Traum.
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Während in der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) zum Beginn des neuen Studienjahres Feierlichkeiten stattfinden, trinke ich auf dem Campus einen Kaffee und betrachte dabei die fröhlichen Studentinnen und Studenten, ihre glücklichen Eltern und die würdevollen Lehrkräfte. Umarmungen, Selfies, neue Bekanntschaften: So war auch mein erster Unitag vor 30 Jahren. Nichts ist anders als damals, außer den Smartphones. Sie wollen lernen, so wie wir lernen wollten, Spaß haben, einander kennenlernen.
Aber was erwartet diese jungen Menschen, die trotz des Kriegs in der Ukraine geblieben sind, die hier studieren wollen und ihre Zukunft in diesem Land sehen? Hier zum Beispiel dieser hochgewachsene junge Mann mit schulterlangen lockigen Haaren. Du hättest wie Hunderte andere mit deiner Mutter nach Polen fahren können oder nach Frankreich, dort in eine Sozialwohnung ziehen und warten, bis der Krieg und die mögliche Einberufung vorbei sind.
Und du, Mädchen mit der bestickten Schleife im Haar, du könntest dich für ein Stipendium bewerben und in Krakau studieren, oder in München. Aber ihr seid beide geblieben. Wie mein Sohn Iwan, der mir noch vor einem Jahr geschrieben hatte, wie cool es im Mathe-Gymnasium in Potsdam sei und dass ihm Deutsch besser liege als Englisch. Aber im Juni letzten Jahres verkündete er dann, dass er in der Ukraine sein Abitur machen und auch nur hier mit dem Studium beginnen wolle.
Die genaue Anzahl all der jungen klugen Köpfe, die nach dem 24. Februar 2022 die Ukraine verlassen haben, kennen derzeit weder die Regierung noch Soziologen. Aber es heißt, es seien bedeutend weniger als diejenigen, die beschlossen haben, weiter in ihrem Land zu lernen.
Der Luftalarm unterbricht meine Gedanken. Die Sirene heult eine Straße weiter. Im Nu verstummt die studentische Gesellschaft auf dem Campus und wir gehen in den Schutzkeller hinunter. An dieser Uni wird der Alarm sehr ernst genommen – Anfang Juli ist eine russische Rakete in ein Wohnhaus nur 300 Meter von hier entfernt eingeschlagen. Danach lebte ein Teil der Menschen aus dem zerstörten Haus für eine Weile auf dem Campus.
Im Schutzkeller lerne ich die Mutter einer Studentin aus Mykolajiw kennen. Beide sind schon glücklich darüber, dass man in Lwiw nicht nur offline studieren, sondern einfach die Straßen entlanggehen kann, ohne Angst vor Raketen- oder Granateinschlägen. Während die jungen Leute im Luftschutzkeller ein buntes Treiben veranstalten, lese ich Nachrichten. In Kyjiw informierte die Polizei am 1. September, dass alle weiterführenden Schulen vermint seien.
In Charkiw können Kinder in Metrostationen lernen. Im neuen Schuljahr müssen Schulkinder Kurse zu Minensicherheit und Drohnenkontrolle besuchen. Wir in der Ukraine suchen jetzt das, was uns vereint, außer dem Hass auf Putins Russland. Und das sind – unsere Kinder. Unsere Zukunft. Für sie müssen wir unser Bestes tun.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
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Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September 2022 herausgebracht.
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