Ukrainische Studierende im Krieg: Erwachsene Ansprechpartner gesucht
Nach Jahren der Pandemie und des Krieges wird in ukrainischen Unis wieder in Präsenz unterrichtet. Doch die Studierenden brauchen mehr als Seminare.
Odessa taz | Vor Beginn des neuen Studienjahres hatte ich ein Angebot der Universität Odessa angenommen, dort als Dozentin zu arbeiten. Ich werde künftig also meine Arbeit als Chefredakteurin mit der Lehre an der Fakultät für Journalismus verbinden. Seitdem werde ich immer häufiger gesiezt. Das ist für mich etwas ungewohnt.
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In diesem Jahr gehen die Studierenden erstmals wieder zum Studieren in die Uni. Während der Pandemie und dem großen Krieg liefen alle Veranstaltungen nur online. In meiner Seminargruppe sind über 30 Leute. Ich spreche mit ihnen auch über meine beruflichen Erfahrungen, denn ich arbeite seit 15 Jahren als Journalistin, das heißt, einen großen Teil meines Lebens.
Viele der Studierenden kommen aus Städten, die man als „Hotspots“ auf der ukrainischen Landkarte bezeichnen kann. Cherson, Charkiw, Saporischschja – Städte und Regionen, die täglich unter Beschuss der russischen Armee sind. Deswegen reden wir während der Seminare nicht nur über Unterrichtsinhalte, sondern auch über ihre persönlichen Gefühle, ihre Angst und ihren Schmerz, über all das, was diese jungen Menschen zu bewältigen haben. Während des Luftalarms gehen wir zusammen in den Schutzraum und setzen den Unterricht dort fort.
Einmal sprachen wir über die Kunst einer der schwierigsten journalistischen Gattungen, des Interviews. Als Beispiel hatte ich ihnen ein Interview mitgebracht, das ich mit einem jungen Genie geführt hatte. Dieser junge Mann – zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war er vierzehn Jahre alt – hatte einen speziellen Stadtplan für Menschen mit Sehbehinderung entwickelt, der ihnen half, sich in der Stadt zurechtzufinden.
Der nicht besonders redselige junge Mann namens Borja beherrschte fünf Sprachen und hatte mit seiner Erfindung zahlreiche Wettbewerbe gewonnen. Aber es war ihm sehr unangenehm, darüber zu sprechen. Ich erklärte den Studierenden an diesem Beispiel Techniken, mit denen man sogar so einen Menschen zum Erzählen bringen kann.
Nach der Stunde schaute ich in meinen Newsfeed und sah, dass Borja gerade gefallen war, bei einem Kampfeinsatz. Als er volljährig geworden war, hatte sich dieser Junge, der noch so viel im Leben hätte erreichen können, als Freiwilliger an die Front gemeldet, um seine Heimat gegen die Besatzer zu verteidigen.
Als ich das Angebot annahm, als Dozentin an der Journalismus-Fakultät zu arbeiten, hatte ich gedacht, dass ich Studierenden fachliche Kompetenzen vermitteln könne. Aber es zeigte sich, dass sie nicht nur Wissen brauchen, sondern auch den psychologischen Beistand eines erwachsenen Menschen. Fast alle diese jungen Leute waren zum Studium nach Odessa gekommen, weil es hier weniger gefährlich ist als in ihren Heimatstädten. Aber dort sind ihre Eltern zurückgeblieben.
Einige Väter sind an der Front, Männer, die bis vor Kurzem noch als Manager, Juristen und Lehrer gearbeitet hatten. Und ich schätze, dass ich quasi der Ersatz für diese Erwachsenen bin, mit denen man über die Dinge sprechen kann, die einen beunruhigen. Einige dieser Studierenden könnten selber Helden und Heldinnen von Interviews werden.
Vika zum Beispiel, Studentin im ersten Semester, erzählte, wie sie während der Zeit der russischen Besatzung in Saporischschja mit Freunden zusammen Nägel auf die Straßen gestreut hatten, um die Reifen der russischen Militärfahrzeuge zu zerstören. Das Mädchen ist gerade 17 Jahre alt. In diesem Alter sollte man Geschichten über die erste Liebe erzählen.
Im ukrainischen Bildungssektor gibt es derzeit einen großen Mangel an Lehrkräften. Aus Angst um das eigene Leben haben viele Fachkräfte das Land verlassen, andere sind an der Front. Weil ich das weiß, konnte ich das Angebot der Universität nicht ablehnen, trotz eines Monatsgehaltes von umgerechnet nur 85 Euro. Das ist sehr wenig. Aber ich verstehe gut, dass die Jugendlichen ja trotzdem lernen wollen, anständige Menschen und gute Fachleute werden müssen und ein Recht auf Bildung haben.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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Leser*innenkommentare
Konfusius
Danke, TAZ.