Blick aus dem Fenster auf einen zerstörten Wohnblock nach einem Bombenangriff. Vor dem Fenster steht eine bunte Kinderrutsche

Blick aus dem Fenster in einer Wohnsiedlung in Charkiv, nach einem Bombenangriff im März 2022 Foto: Nikita Zhadan

Teenager in der Ukraine:Wenn Leben Stillstand heißt

Seit ihrer Kindheit herrscht in der Ukraine Krieg. Wie leben ukrainische Teenager, was macht sie traurig, was froh? Und wie sehen sie ihre Zukunft?

24.2.2024, 11:21  Uhr

Als Russland 2014 die Krim annektierte und der Krieg im Donbass begann, waren sie noch Kinder. Dann kam die Coronapandemie, dann der russische Großangriff. Wie leben Jugendliche in der Ukraine? Vier Protokolle.

Vera Suprun (13) aus Charkiw
Portät von Vera Suprun - sie hat lange braune Haare

Vera Suprun geht in die 8. Klasse eines Charkiwer Gymnasiums Foto: privat

Wir lernen jetzt online, mit dem Tablet. Ich bin schon daran gewöhnt, aber manchmal ist es doch schwierig, so lange vor dem Bildschirm zu sitzen. Wäre schön, wenn es weniger wäre. Aber es ist, wie es ist. Trotzdem wünsche ich mir eine Offlineschule, wenn es irgendwann wieder sicherer ist.

Vera Suprun, 13 Jahre

Seit dem 24. Februar 2022 bin ich emotional sehr erwachsen geworden, psychisch und moralisch

Für Online-Unterricht muss man diszipliniert sein und sich gut organisieren. Ich muss mich jedes Mal erst darauf einstellen, dass jetzt Unterricht ist. Dass ich Informationen und Wissen aufnehme, und darf mich nicht ablenken lassen. In der Schule fiel mir das leichter, weil da Lehrer waren, die die Dinge verständlich erklären konnten. Ich habe auch meine Mitschüler gesehen, das war schön. Es ist schwierig, sechs, sieben Schulstunden stillzusitzen, nicht das Haus verlassen zu können. Danach ist man ziemlich kaputt. Leider habe ich keine Möglichkeit, in der Metro-Schule zu lernen (Unterricht in einer U-Bahn-Station; d. Redaktion).

Seit dem 24. Februar 2022 bin ich emotional sehr erwachsen geworden, psychisch und moralisch. Ich habe angefangen, mein Leben detaillierter zu planen, ich habe jetzt Ziele und Prioritäten. Ich kann auch die Menschen mehr wertschätzen, mit denen ich meine Zeit verbringe, meine Eltern zum Beispiel. Man muss seine Familie wertschätzen, denn man hat nur diese eine, eine andere wird es nicht geben.

Mein liebstes Hobby ist Lesen. Bis zum Kriegsausbruch habe ich auch russische Literatur gelesen. Aber seit dem 24. Februar lese ich nur noch ukrainische Bücher! Ich höre auch gerne Podcasts. Und ich gehe gerne ins Kino, aber das ist leider nicht so oft möglich. Außerdem gehe ich zum Tanzen, das ist wie Sporttraining. Toll, dass ich diese Möglichkeit habe. Und ich bin viel mit meinen Freunden zusammen.

Zu Beginn des Krieges haben wir Charkiw verlassen. Wir waren in Winnyzja, das ist weiter im Westen. Da waren wir einen Monat, ich habe meine Stadt sehr vermisst. Aber wir sind in der Ukraine geblieben. Wie kann man auch seine Heimat im Stich lassen?

Ich weiß nicht, ob ich mich in Charkiw in Sicherheit fühle. Wenn die Raketen fliegen und das Leben bedroht ist, ja, das ist nicht ungefährlich. Aber ich lebe weiter. Es ist nicht so, dass ich immer Angst habe. Aber klar, manchmal schon. Wenn die Raketen sehr nahe an unserem Haus vorbeifliegen, dann habe ich Angst um meine Familie und mich selbst.

Das Wichtigste für mich ist, dass der Krieg aufhört. Dann wird sich für mich und viele Ukrainer viel ändern. Und ich werde mich nicht mehr bedroht fühlen. Ich träume davon, zu dem Menschen zu werden, der ich wirklich sein will. Ich möchte stolz auf mich sein. Und einen Job haben, mit dem ich zufrieden bin und der mich interessiert. Nicht, dass ich dauernd total fertig von der Arbeit bin.

Ich mag Bücher, ich möchte Schriftstellerin werden. Ich habe schon versucht, Dinge zu schreiben. Ich würde auch gerne Linguistin werden, oder Psychologin oder Journalistin.

Mein Leben sehe ich in Charkiw und in der Ukraine! Ich möchte hier bleiben, weil wir unsere Stadt, unsere Heimat wieder aufbauen. Später. Nach dem Krieg.

Protokoll: Juri Larin

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Vera Poluden (16) aus Uman
Porträt von Lisa Poluden

Lisa Poluden besucht die 10. Klasse. Sie ist mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder aus dem Gebiet Cherson geflohen und lebt jetzt in Uman Foto: privat

Als 2014 der Krieg begann, war ich noch ziemlich klein. Ich kann nicht sagen, ob ich damals schon wirklich etwas davon mitbekommen habe, aber ich erinnere mich, wie meine Mama zu meiner großen Schwester Nastja sagte, sie hoffe, wir erleben noch den nächsten Tag. Ich war damals ein bisschen erschrocken.

Vor Beginn des russischen Großangriffs wollte mein Papa unser Dorf Tschornobajiwka verlassen. Er sagte, dass bald der Krieg beginnt, aber niemand hat ihm geglaubt. Trotzdem hat er mir immer wieder erklärt, was wir im Fall einer Invasion tun müssen.

Am 22. Februar hat er mich zum Beispiel zu sich gerufen und gesagt, dass ich sofort nach Hause rennen muss, wenn ich eine Explosion höre. Ich solle dann Mama helfen. Denn Mama muss ja irgendwie dafür sorgen, dass wir erst mal aus Tschornobajiwka rauskommen. Und ich solle dann auf meine Schwester aufpassen und Mama beruhigen, weil das Autofahren für sie stressig werden könnte.

Am 23. Februar abends war ich mit Freunden unterwegs, da war noch alles okay. Gegen acht hab ich noch mit meiner Freundin telefoniert. Dann bin ich schlafen gegangen. Gegen fünf Uhr morgens hab ich die erste Explosion gehört. Das war ein Luftangriff auf den Flughafen.

Lisa Poluden, 16 Jahre

Als ich kapiert habe, dass meine beste Freundin pro-russisch ist, war das echt ein harter Schlag

Ich hatte ziemliche Angst und bin zu Papa gerannt. Er sagte: „Schnell, weck Nastja, packt eure Sachen.“ Nastja und ich hatten total Panik und wussten gar nicht, was wir brauchen. Deshalb haben wir alles gegriffen, was wir in die Finger bekommen konnten. Und dann haben wir überlegt, wohin wir jetzt eigentlich fahren. Ich schlug vor, erst mal in Ruhe zu frühstücken. Das haben wir auch getan. Und dann sind wir nach Cherson gefahren, das sind nur zwei Kilo­meter.

Bis zu dem Großangriff war dort auch meine Schule. Es war die beste Schule der Stadt, aber viele Leh­re­r dort waren prorussisch. Nachdem die russische Armee die Stadt besetzt hatte, hat unsere Direktorin mit den russischen Militärs zusammengearbeitet und die Schule zu einer russischen gemacht. Es gab nur noch russische Schulbücher und in der Aula fand im letzten Herbst dieses Referendum über die angebliche Zugehörigkeit von Cherson zu Russland statt.

Sie hat auch dauernd ihre Schü­le­r angeschrieben, damit die zur Schule kommen. Denen, die dort nicht mehr lernen wollten oder sich abmelden, hat sie gedroht, dass man sie finden und erschießen werde.

Meine beste Freundin hat sich zu Beginn der russischen Invasion ganz komisch benommen. Später habe ich kapiert, dass sie für Russland war. Das war echt ein harter Schlag für mich.

Alles, was jetzt passiert, ist ziemlich merkwürdig. Mit meinen 16 Jahren quälen mich viele Fragen, die man in diesem Alter nicht haben sollte. Es macht mich ziemlich fertig, dass ich jetzt schon so wichtige Entscheidungen treffen muss. Zum Beispiel, wo ich später studieren soll. Also, ob ich ins Ausland gehe oder in der Ukraine bleibe. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich mein ganzes Leben in der Ukraine verbringen werde, aber jetzt wird mir klar, dass ich hier gerade nur Stillstand erlebe.

Protokoll: Yuliia Shchetyna

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Nikita Rybatschenko (20), Odessa
Nikita Rybatschenko, er trägt eine gelbe Jacke und hat eine schwarze Kapuze auf

Nikita Rybatschenko studiert seit 2020 Journalistik in Odessa. Nebenbei arbeitet er im Marketing Foto: Bernhard Clasen

„Hallo, schläfst du noch?“, wurde ich am 24. Februar 2022 morgens am Telefon geweckt. „Aufwachen. Es ist Krieg.“ Und schon war das Gespräch beendet. Ich bin einfach erst mal liegen geblieben, habe gehört, wie die Raketen einschlugen. Das war eine Zäsur in meinem Leben.

Vor dem Krieg habe ich telefonische Kundenakquise gemacht, für einen Internetprovider. Am 22. Mai 2022 war ich diesen Job los. Vor dem Krieg hatten wir Pläne, wollten Odessas Kultur populär machen, wollten Filme drehen. Wir hatten auch schon einen ersten Drehtermin, am 26. Februar 2022. Und am 25. Februar sollte ich operiert werden. Beides habe ich nicht mehr umsetzen können. Auch, weil erst mal das Geld zur Neige ging.

Heute habe ich vielleicht sogar ein bisschen mehr Geld als früher. Das Problem ist nur: Das ist jetzt viel weniger wert. Die Inflation frisst alles auf.

Nach meiner Entlassung bei dem Internetprovider war ich ein paar Monate arbeitslos. Glücklicherweise hatte ich Erspartes, deswegen konnte ich normal weiterleben. Staatliche Stütze wollte ich keine. Zum einen ist das echt wenig Geld, dafür geh ich nicht zum Amt. Außerdem war damals nicht klar, wen sie nun zum Militär einziehen werden. Und da wollte ich nicht groß auffallen. Schließlich geben die Arbeitsämter ihre Daten an die Wehrämter weiter. Ich bin zwar als Student von einer Einberufung freigestellt. Ich arbeite aber auch noch nebenher. Und Angestellte dürfen eingezogen werden. Es war mir nicht ganz klar, was für mich gilt.

Dann, im Oktober 2022, endlich ein neuer Job. Das Theater Haus der Clowns suchte Leute, die für sie Videos machten – und sie haben sich für mich und einige meiner Kollegen entschieden. Ein Problem dabei ist für mich die Sprache. Es gibt hier mehrere Gesetze, die die russische Sprache benachteiligen. Reklame auf Russisch ist faktisch nicht mehr möglich. Und im Theater werden keine Stücke in russischer Sprache mehr aufgeführt. Aber ich kann auf Russisch einfach besser formulieren, es ist meine Muttersprache.

Nikita Rybatschenko, 20 Jahre

Auf Russisch kann ich einfach besser formulieren, es ist meine Muttersprache

Nein, planen kann ich nichts. Du weißt ja nicht mal, ob und wo es das nächste Mal einschlägt. Ich plane immer nur für die nächsten sieben Tage.

Ich arbeite gerne im Haus der Clowns. Denn da können wir Menschen eine Freude machen, die viel mitgemacht haben. Frontsoldaten beispielsweise, Verletzten. Und die haben so viel Spaß und können bei unseren Aufführungen mal so richtig abschalten. Das ist wichtig. Und da geben wir uns viel Mühe. Überhaupt geben sich die Odessiten viel Mühe, sich gegenseitig das Leben zu erleichtern.

In den zwei Jahren Krieg hat man sich fast ein bisschen an die Situation gewöhnt. Die meisten reagieren schon nicht mehr auf die Sirenen. Tja, sterben müssen wir ja sowieso alle irgendwann.

Seit Kriegsbeginn lese ich Remarque. Bei der Lektüre von „Drei Kameraden“ habe ich unsere heutige Situation wiedererkannt. Denn in diesem Roman wird jemand beschrieben, der kein Geld mehr hat und keine Arbeit findet und trotzdem versucht, weiter zu funktionieren, weiter zu existieren. Das ist es, was die Aktualität von Remarque heute ausmacht.

Protokoll und Übersetzung von Bernhard Clasen

Oleksii Dremliuk (15) aus Odessa
Porträt von Oleksii Dreniuk

Oleksii Dreniuk floh 2022 mit seiner Mutter nach Amsterdam, später nach Deutschland. Nach einigen Monaten kehrten sie nach Odessa zurück Foto: Marco Zschieck

Als vor zwei Jahren die russische Invasion begann, hatten wir Angst und darum hat meine Familie beschlossen, das Land zu verlassen. Zwei Tage später waren wir schon in der Republik Moldau, nach zwei Wochen sind wir in die Niederlande weiter gefahren. In der Nähe von Amsterdam bin ich zur Schule gegangen und hatte sogar ein paar Freunde. Aber wir hatten Probleme mit der Wohnung.

Deshalb sind wir dann im Sommer nach Deutschland gegangen, in ein Dorf bei Bad Doberan an der Ostsee. Für mich war das auch besser, weil ich in der Ukraine schon Deutsch gelernt hatte. Aber weil meine Mutter und meine Schwester krank geworden sind, sind wir nach zwei Monaten zurück in die Ukraine gegangen. Mein Vater war die ganze Zeit hier in Odessa.

Zuerst hatten wir Angst, es gab ja viele Angriffe, aber irgendwie versuchen wir uns daran zu gewöhnen. Es ist nicht leicht für uns alle. Besonders wenn die Angriffe nachts kommen.

Viele Familien leben jetzt getrennt, weil der Vater oder der Bruder an der Front sind. Mein Vater ist hier bei uns und arbeitet als ehrenamtlicher Helfer für unsere Armee. Wir leben hier von Tag zu Tag, man weiß ja nie, was am nächsten oder übernächsten Tag passieren wird.

Oleksii Dremliuk, 15 Jahre

Wir leben hier von Tag zu Tag, man weiß ja nie, was am nächsten Tag passiert

Deshalb versuchen wir, uns auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, uns an Kleinigkeiten zu freuen. Und nicht darüber nachzudenken, was in einem Monat passieren könnte, weil wir das ja sowieso nicht wissen. Und alles kann von einem Moment auf den nächsten zerstört werden.

Ich weiß noch nicht genau, was ich später machen will. Wenn ich eine Möglichkeit hätte, dann würde ich am liebsten etwas mit Wirtschaft studieren, vielleicht in Wien. Aber das hängt natürlich von der Situation ab. Ich kann ja nur ins Ausland, solange ich noch nicht 18 Jahre alt bin. Und vorher das Land zu verlassen ist eine schwierige Entscheidung.

Wenn man jetzt schon studiert, wird man ja bis zum Studienabschluss nicht für die Armee mobilisiert. Aber diese Regeln können sich auch ändern. Ich hoffe natürlich, dass die Situation sich verbessert, dass wir unser Leben in Zukunft so leben können, wie wir das selber wollen.“

Protokoll Marco Zschieck

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