piwik no script img

Unruhen in FrankreichVerhärtete Wut

Wenn die Gewalt der jungen Menschen in Frankreich sinnlos ist, was wäre dann sinnvolle Gewalt? Wenn die Polizei einen Teenager erschießt?

Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung führen zu Gewalt Foto: Michel Euler/ap/dpa

S eit Tagen randalieren junge Menschen in Frankreich, weil ein Polizist einen von ihnen, den 17-jährigen Nahel M., sinnlos erschossen hat, und die ganze Welt versucht, die Randale zu verstehen: Woher kommt die Gewalt?

Die Vorfahren dieser jungen Menschen sind aus den ehemaligen Kolonien nach Frankreich eingewandert. Die jungen Menschen selbst sind in Frankreich geboren. Einige von ihnen waren wahrscheinlich noch nie in einem anderen Land. Trotzdem sind sie nie in der Mitte der französischen Gesellschaft angekommen. Draußen sind sie nicht nur in den Köpfen, sondern auch räumlich geblieben. Drinnen ist es teuer, drinnen fallen sie auf, drinnen müssen sie sich rechtfertigen, drinnen werden sie kontrolliert. Bei Kontrollen werden sie erschossen. Aber was soll die sinnlose Gewalt?

Manche von ihnen werden doch reingelassen, nicht nur in die gesellschaftliche Mitte, sie werden an die gesellschaftliche Spitze gesetzt – weil sie gut Fußball spielen, gute Musik oder gute Filme machen. Seht her, schreien die in der Mitte dann, heute ist es doch besser als vor 40, 30, 20, 10 Jahren! Wenn ihr es wirklich wollt, wenn ihr nur hart genug an euch arbeitet, dann könnt ihr es auch schaffen. Chancengleichheit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Also woher diese sinnlose Gewalt?

Statt sich anzustrengen, zerstören diese jungen Menschen gerade alles: Autos, Busse, Gebäude; sie nutzen den Tod des 17-jährigen Nahel M. aus, um diese Dinge kaputt zu machen, heißt es. Dabei könnten sie, die jüngsten von ihnen sollen 12 Jahre alt sein, doch andere, sinnvolle Dinge tun, die Menschen in ihrem Alter so tun, die Spaß machen: zum Beispiel ein Buch lesen, ein Computerspiel spielen, ihre Lust und die Liebe entdecken. Was unterscheidet diese jungen Menschen, die randalieren, von den jungen Menschen, die nicht randalieren, sondern zocken und knutschen? Die sinnlose Gewalt?

Wenn sich Wut verhärtet

Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung sind Gefühle, die nicht lange in ihrem Ausgangszustand verharren. Sie stehen unter Veränderungsdruck. Sie wollen, dass man etwas mit ihnen macht. Manchmal fließen sie in Resignation über, manchmal formen sie sich zur Depression aus. Was passiert, wenn sie sich zu Wut verhärten?

Wenn die Gewalt dieser jungen Menschen sinnlos ist, was ist dann sinnvolle Gewalt? Der Schuss eines Polizisten in die Brust des 17-Jährigen Nahel M., der Nahel das Leben gekostet hat? Wenn der Schuss dafür steht, dass die einen mehr Rechte, mehr Chancen, mehr Mittel haben als die anderen – einfach so und ohne sinnvolle Begründung –, dann mag das so sein. Dann ist dieser Schuss die Selbstvergewisserung der Ungerechtigkeit. Dass diese Gewalt für ihre Profiteure Sinn ergibt, heißt nicht, dass sie alle sinnvoll finden.

Kann man von jenen, die in die Sinnlosigkeit verbannt wurden, eine sinnvolle Reaktion erwarten?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • Sehr toll, ich lese ihre Kolumnen sehr gerne! Weiter so!

  • Ich würde gar nicht so sehr die Gewalt in den Fokus nehmen.

    Die meisten dieser jungen Menschen sind arm und sie haben wenig Chancen, an ihrem Leben etwas radikal zu verändern, jedenfalls falls es um Karriere, Beruf, Einkommen und Konsum geht.

    In Frankreich ist der Kampf um gute Arbeitsplätze sehr hart und er erzeugt viele Verlierer, die - wenn sie aus Vorstädten kommen, wenn sie migrantisch sind - den Rest der Gesellschaft wenig stören.

    Und billige, nicht-qualifizierte Arbeitskräfte gibt es in Frankreich viele, da besteht kein Mangel, das nützt auch vielen, aber meist nicht denjenigen, die zu diesen Tarifen arbeiten gehen.

    Die größte Gruppe mit Migrationshintergrund sind Menschen aus Spanien, teilweise mit einer langen Einwanderungsgeschichte. Diese Menschen sind ziemlich gut integriert, auch wenn die Zweisprachigkeit oft lange weiter besteht.

    Natürlich leben auch solche Menschen in den Vorstädten, aber meist konzentrieren sich dort Menschen, die sozial schwach aufgestellt sind und die wenig Chancen haben.

    Auch materiell besteht dort immer die eine oder andere Form der Armut. Und die Bekämpfung von Armut funktioniert nur gut und nachhaltig, wenn Menschen gute Arbeitsstellen finden, wenn sie sich bilden und qualifizieren können.

    Das ist gerade bei vielen Menschen in den Vorstädten nicht gegeben und genau an diesem Punkt wollen viele Politiker in Frankreich auch nichts ändern. Zum einen bietet Frankreich relativ viel, zum Beispiel Kinderbetreuung, Vorschule, Sportvereine, aber es greifft eben dort nicht gut.

    Und die Regierung pumpt sinnlos € Mrd. in die Wirtschaft, in große Unternehmen, die dann nur wenige Arbeitsplätze anbieten.

    Frankreich braucht eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung, braucht bildungspolitische Initiativen.

    Und zwar welche, die nachhaltig, wirksam sind. Die fehlen seit mehr als 40 bis 50 Jahren. Die Schlafstädte sind auch nicht alle prekär, viele sind normale Wohnquartiere.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Sinnlos ist auf jeden Fall, wegen fahren ohne Führerschein zweimal eine Polizeisperre zu durchbrechen. Und natürlich darauf mit einer Waffe auf den Menschen und nicht auf den Reifen o.ä. zu reagieren.

  • "Statt sich anzustrengen, zerstören diese jungen Menschen gerade alles: Autos, Busse, Gebäude; sie nutzen den Tod des 17-jährigen Nahel M. aus, um diese Dinge kaputt zu machen, …"



    Diese "jungen Menschen" interessiert nicht, dass schuld an Nahel M.'s Tod EIN Polizist ist, den deswegen eine Anklage wegen Mordes erwartet. Nicht einmal im Kollegenkreis findet er allgemeine Sympathie für seine Tat. Auch nicht bei den Bürgern, deren Eigentum bei den nachfolgenden Randalen zerstört wird.



    Die Randalierer wollen einfach nur ihren Zorn ausleben, egal, wen und was es kostet. Den Nutzen hat niemand, nicht einmal sie selbst. Und Nahel M. wird dadurch auch nicht wieder lebendig. Das Sprichwort: "Zorn ist ein schlechter Ratgeber" ist in diesen Kreisen unbekannt!

  • Das Problem ist doch das die in den Ghettos konzentriert sind was ihre Integration erschwert. Also müssen die Ghettos weg und die Leute umgesiedelt werden. Das geht aber in einer Demokratie nicht deswegen werden die Franzosen le pen wählen wenn Macron nichts besseres einfällt.

  • "Kann man von jenen, die in die Sinnlosigkeit verbannt wurden, eine sinnvolle Reaktion erwarten?"



    Ja, kann man. Jedenfalls wenn man ein positives Menschenbild hat.

  • Mal wieder ein sehr guter Artikel von Herrn Agar. Nein, er bietet keine Lösung, aber wie kann er auch? Das Problem ist Jahrzehnte alt. Aber:

    "Wenn die Gewalt der jungen Menschen in Frankreich sinnlos ist, was wäre dann sinnvolle Gewalt? Wenn die Polizei einen Teenager erschießt?"

    Die ganze verfahrene Gemengelage so bitterböse wie intelligent in *anderthalb* Sätzen auf den Punkt zu bringen - DAS ist JOURNALISMUS, vor dem sogar ein Tucholsky den Hut ziehen würde.

  • Haben diese jungen Menschen weniger Rechte?

    Werden für ihre Schul- oder Berufsabschlussprüfungen härtere Bedingungen gestellt als für andere?

    Sie wachsen gewiss unter weit härteren Bedingungen auf. Wer möchte schon in diesen seelenlosen Banlieue leben? Architektonische Verbrechen.

    Doch das sind die Folgen von Massenarbeitslosigkeit und sehr hohen Staatsschulden, unter denen Frankreich seit Jahrzehnten leidet.

    Ein paar Plattitüden, die ich jedoch als wahr empfinde:



    1. Kann man seine Kreativität nicht leben, geht diese in Destruktivität.



    2. Frustration erzeugt Aggression

    Wie kann man diesen jungen Leuten helfen?

    Sicher nicht durch salafistische Hetzprediger. Diese bedeuten eine unentwegte Abwärtsspirale.

    Helfen würden wohl am ehesten Jobs. Doch Frankreich leidet seit über 40 Jahren an hohen Arbeitslosenquoten mit einem Durchschnitt von neun Prozent, also immer einige Millionen Menschen. Im Moment ist die Quote etwas besser, liegt wohl an den ausscheidenden Boomern. Diese Welle wird etwa 2030 abklingen, und dann werden wohl leider auch KI und ihre Roboter immer mehr in Fahrt kommen und Millionen repetitiver Jobs verschwinden.

    Wie bereitet sich Frankreich darauf vor? Wie hilft man diesen Jugendlichen? Wie helfen diese Jugendlichen sich selber?

    Mit der Polizei zu fighten ist sicher die schlechteste Lösung. Das ist rein reaktiv. Und den Polizisten geht es auch miserabel damit. Wie geht es Polizisten, wenn einen ihrer Kollegen ein Molotow-Cocktail trifft, er brennt und die umstehenden Jugendlichen über Grillhähnchen witzeln?

    Der ganzen Gesellschaft geht es miserabel. Alle haben Angst. Und damit steigen die Aggressionen.

    Leider weiß ich viel zu wenig über die französische Gesellschaft um hier mit Lösungen aufwarten zu können.

    Wüsste ich auch hierzulande nicht, wo ich eine ähnliche Entwicklung erwarte wie in Frankreich.

    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

    Doch wie setzt man das um?

    Ganz praktisch. Ideologiefrei.Was sagen die Wissenschaftler dazu? Ökonomen?

    • @shantivanille:

      Weil du das gerade mit der KI ansprichst: Frankreich muss JETZT eine Lösung präsentieren, dass mehr und mehr Menschen eine feste Arbeit bekommen werden, obwohl mehr mehr Arbeitsplätze automatisiert werden.

  • Gewalt ist nie sinnvoll, wenn es nicht um einen konkreten Notwehrkontext geht. Aber manche Gewalt kann man logisch nachvollziehen. Der Vater, der den Mördern seines Sohnes Gewalt antut. Die Palästinenser, die Soldaten und Panzer mit Steinen bewerfen. Empathische Menschen mögen das nicht gutheißen, können es aber verstehen.



    In dem Kontext in Frankreich wären Demos und auch Gewalt vor Polizeistationen oder Rathäusern verständlich. Den Krämer um die Ecke oder die Autos unbeteiligter zu zerstören ist weder logisch noch bringt es Sympathien oder wird was verbessern. Es liefert den Rechtsaußen nur noch bessere Rechtfertigungen, "diese Leute" noch mehr zu drangsalieren und sogar mit großer Mehrheit der Mitte und des moderaten linken Lagers. Das ist wie bei den Klimaklebern, die die Klimadebatte auf dem Gewissen haben. Mit FFF ging es steil hoch, dann kamen die Extremisten und schon war es vorbei mit der breiten Front der Bürger für das Klima. Das ist das Werk entsprechender Firmen und Politiker, aber die Kleber haben deren Aufgabe so viel einfacher gemacht. Ebenso wird die nächste Wahl in Frankreich einen N@zi zum Präsi wählen, weil sie genau mit diesen brennenden Barrikaden Angst und Hass schüren werden. Und die Leidtragenden werden genau die sein, die jetzt glauben, sie würden was ändern. So klappt das nicht. Man kann nur bottom-up was ändern, wenn man die weiter oben auf seine Seite ziehen kann. Indem man deren Autos abfackelt und ihre Lebensgrundlage bedroht klappt das nicht. Überraschend, nicht wahr?

    • @Hefra1957:

      Wow, Menschen die sich auf Straßen kleben sind also Extremisten? Selten so einen Quark gelesen.

  • In einem demokratischen Rechtsstaat hat alleine der Staat das Gewaltmonopol. Und der Staat ist in der Ausübung der Staatsgewalt an strenge Regularien gebunden. Wenn der Polizist, der Nahel M. erschoss, gegen diese Regularien verstoßen hat, wonach es wohl aussieht, dann ist dies in einem Verfahren festzustellen und zu ahnden.

    Wenn wir gesellschaftlichen Frieden in einem demokratischen Rechtsstaat haben wollen, dann ist das Gewaltmonopol des Staates essentiell. Natürlich muss die Art, in der der Staat sein Gewaltmonopol ausübt, an Gesetze und Regularien gebunden sein, und bei Verstößen gegen diese muss es auch Sanktionen gegen die beteiligten Staatsorgane geben.

  • Superpeinlich ist ja immer das ganze Blattgold im Hintergrund, wenn Macron so angestrengt, haha, versucht zu verstehen, woher nur diese sinnlose Gewalt kommt. So eine gewisse VerBonnisierung würde Paris wirklich mal gut tun. Diese behauptete Grandeur ist dermaßen unglaubwürdig und lange überholt - da muß er sich wirklich nicht allzusehr wundern, daß die Banlieus ihm und der französischen Gesellschaft um die Ohren fliegen. Der Konflikt ist alt genug, ernsthaft angegangen und gelöst zu werden, aber ... kärchern hilft da nicht.

  • Hm. Selbst, wenn man es nach "drinnen" geschafft hat, wird man auch mal von der Polizei vermöbelt [1]. Man muss nur schwarz sein.

    Es ist furchtbar tragisch, dass die Staatsmacht in einem Chor mit der extremen Rechten nach "harter Hand" jault. Billig und feige.

    [1] taz.de/Proteste-in-Paris/!5728725/

  • Gewalt ist keine Lösung.



    Eine alte Weisheit. Die Erschießung des Jugendlichen muss rechtsstaatlich untersucht werden.



    Selbstjustiz gegen Alle ist inakzeptabel.



    Hier liegt der Verdacht nahe, dass ein Anlass gesucht wurde, der Zerstörungswut freien Lauf zu lassen.



    Auch als die Hauptbetroffene, die Mutter, zu Mäßigung aufrief, ging die Gewalt weiter.



    Die Argumentation, es handle sich bei den GewalttäterInnen um sozial Benachteiligte, erinnert ungut an die Argumentationen Anfang der 90er, die Neonazi Gewalt erklären wollte.



    Schon möglich , dass hier ein anderer politischer Hintergrund besteht, noch wahrscheinlicher, dass es sich um "Unpolitische" handelt.



    Die Angst, die die Gewalttätigen verbreiten, ist nicht gerechtfertigt.