Unruhen in Frankreich: Verhärtete Wut
Wenn die Gewalt der jungen Menschen in Frankreich sinnlos ist, was wäre dann sinnvolle Gewalt? Wenn die Polizei einen Teenager erschießt?
S eit Tagen randalieren junge Menschen in Frankreich, weil ein Polizist einen von ihnen, den 17-jährigen Nahel M., sinnlos erschossen hat, und die ganze Welt versucht, die Randale zu verstehen: Woher kommt die Gewalt?
Die Vorfahren dieser jungen Menschen sind aus den ehemaligen Kolonien nach Frankreich eingewandert. Die jungen Menschen selbst sind in Frankreich geboren. Einige von ihnen waren wahrscheinlich noch nie in einem anderen Land. Trotzdem sind sie nie in der Mitte der französischen Gesellschaft angekommen. Draußen sind sie nicht nur in den Köpfen, sondern auch räumlich geblieben. Drinnen ist es teuer, drinnen fallen sie auf, drinnen müssen sie sich rechtfertigen, drinnen werden sie kontrolliert. Bei Kontrollen werden sie erschossen. Aber was soll die sinnlose Gewalt?
Manche von ihnen werden doch reingelassen, nicht nur in die gesellschaftliche Mitte, sie werden an die gesellschaftliche Spitze gesetzt – weil sie gut Fußball spielen, gute Musik oder gute Filme machen. Seht her, schreien die in der Mitte dann, heute ist es doch besser als vor 40, 30, 20, 10 Jahren! Wenn ihr es wirklich wollt, wenn ihr nur hart genug an euch arbeitet, dann könnt ihr es auch schaffen. Chancengleichheit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Also woher diese sinnlose Gewalt?
Statt sich anzustrengen, zerstören diese jungen Menschen gerade alles: Autos, Busse, Gebäude; sie nutzen den Tod des 17-jährigen Nahel M. aus, um diese Dinge kaputt zu machen, heißt es. Dabei könnten sie, die jüngsten von ihnen sollen 12 Jahre alt sein, doch andere, sinnvolle Dinge tun, die Menschen in ihrem Alter so tun, die Spaß machen: zum Beispiel ein Buch lesen, ein Computerspiel spielen, ihre Lust und die Liebe entdecken. Was unterscheidet diese jungen Menschen, die randalieren, von den jungen Menschen, die nicht randalieren, sondern zocken und knutschen? Die sinnlose Gewalt?
Wenn sich Wut verhärtet
Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung sind Gefühle, die nicht lange in ihrem Ausgangszustand verharren. Sie stehen unter Veränderungsdruck. Sie wollen, dass man etwas mit ihnen macht. Manchmal fließen sie in Resignation über, manchmal formen sie sich zur Depression aus. Was passiert, wenn sie sich zu Wut verhärten?
Wenn die Gewalt dieser jungen Menschen sinnlos ist, was ist dann sinnvolle Gewalt? Der Schuss eines Polizisten in die Brust des 17-Jährigen Nahel M., der Nahel das Leben gekostet hat? Wenn der Schuss dafür steht, dass die einen mehr Rechte, mehr Chancen, mehr Mittel haben als die anderen – einfach so und ohne sinnvolle Begründung –, dann mag das so sein. Dann ist dieser Schuss die Selbstvergewisserung der Ungerechtigkeit. Dass diese Gewalt für ihre Profiteure Sinn ergibt, heißt nicht, dass sie alle sinnvoll finden.
Kann man von jenen, die in die Sinnlosigkeit verbannt wurden, eine sinnvolle Reaktion erwarten?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen