Union und SPD gegen Sozialstaat : Das Märchen von der Hängematte
Der Sozialstaat ist kein Zukunft fressender Moloch. Er ist die Basis des friedlichen Zusammenlebens unserer Gesellschaft. Union und SPD ist das offenbar nicht klar.

taz FUTURZWEI | „Unser Land ist satt, langsam, reguliert und träge. Wir brauchen weniger Sozialstaat und dafür mehr Leistungsbereitschaft.“ So formulierte es Rainer Kirchdörfer, Vorsitzender des Lobbyunternehmens Stiftung Familienunternehmen und Politik, in einem Gastbeitrag in der Welt vom 3. November 2024.
Heute, ein halbes Jahr später, ist diese Ansage der Sound der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der Union/SPD-Koalition.
Die angeblich aus den sozialen Systemen geknüpfte „Hängematte“ soll abgehängt werden und jeder soll wieder für sein Unglück selbst verantwortlich sein.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°32: Wozu Kinder?
Kinder und Jugendliche sind die politisch ignorierteste Randgruppe der Gesellschaft. Dabei muss diese Minigruppe demnächst die vielen Renten bezahlen und den ganzen Laden am Laufen halten. Was muss sich ändern?
Mit Aladin El-Mafaalani, Marlene Engelhorn, Arno Frank, Ruth Fuentes, Maja Göpel, Robert Habeck, Celine Keller, Wolf Lotter, Lily Mauch, Luisa Neubauer, Henrike von Scheliha, Stephan Wackwitz und Harald Welzer.
Die Steuern für die Unternehmen sollen runter, mit den eingesparten Abgaben sollen sie investieren, denn dann springt, wie Kai aus der Kiste, das Wachstum an, die Löhne steigen, die Steuereinnahmen sprudeln und dann kann auch wieder über Umverteilung geredet werden.
Dieses Märchen aus den Kindertagen des Kapitalismus sollen die Arbeitenden durch Mehrarbeit, Überstunden und Leistungskürzungen in den sozialen Systemen finanzieren.
Sogar die SPD macht mit?
Wenn sogar die SPD dabei mitmacht, ihre Heldentaten aus den letzten 100 Jahren erfolgreich zivilisierten Klassenkampfes an der Seite der Gewerkschaften abzuräumen, kann eine solche Politik ja nicht so schlimm sein.
Oder? Der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich ist ein Kern der mit Massenstreiks erkämpften Arbeiterrechte, verankert im Eisenacher Programm der SPD von 1869, seit 1918 mit dem Stinnes-Legien-Abkommen in die Arbeitsgesetzgebung der Weimarer Republik eingegangen und schließlich im Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1964 auch in der Bundesrepublik geregelt.
Nun soll er unter dem Vorwand höherer Flexibilisierung für höhere Produktivität im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen geschliffen werden. Bis zu 12 Stunden am Stück an nur vier Tagen der Woche sollen möglich werden. Die festen Strukturen des Arbeitslebens, die das Leben der Familien stabilisieren, werden aufgehoben.
Es erstaunt, dass sich die SPD nicht an ihre Kämpfe an der Seite der Gewerkschaften ab 1956 erinnert. Mit "Samstags gehört Vati mir" wurde die 40- Stunden- und 5-Tage-Arbeitswoche gefordert und in den meisten Wirtschaftsbereichen ab den 1960er Jahren auch durchgesetzt.
Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
Am heutigen 5. Mai wird er 80. Herzlichen Glückwunsch, Udo, und alles Gute!
Die Basis friedlichen Zusammenlebens
Dieses Arbeitszeitmodell ist die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg gewesen, hat Innovationen befördert und Strukturbrüche wie den Ausstieg aus der Kohleförderung ohne jeden Schaden für die Wirtschaft überstanden. Mehr noch: Diese, in Kooperation mit der Wirtschaft durchgesetzte Arbeitszeitregelung, hat Planungssicherheit für den Ausbau aller sozialen Systeme geschaffen.
Das Gesundheitssystem, die Pflegeversicherung, das Kindergeld, das BAföG, der soziale Wohnungsbau, die dauerhaft sichere Rente und vieles andere mehr sind Erfolge der Grundlagen des Sozialstaates, die von der Arbeiterklasse erkämpft wurden.
Der Sozialstaat ist kein Zukunft fressender Moloch einer patriarchalisch zugestandenen Überversorgung. Er ist die Basis des friedlichen Zusammenlebens unserer Gesellschaft.
Er ist das in sicheren Institutionen eingelöste Versprechen der Sozialdemokratie unter dem Schirm sozialer Sicherheit des Staates das eigene Leben selbstverantwortlich gestalten zu können. Von sozialer Hängematte kann keine Rede sein. Sicher gibt es Missbrauch der sozialen Angebote, aber der ist beherrschbar und kein Grund, das gesamte System zu schleifen.
Die Armutsberichte sprechen Bände
In der Bundesrepublik gibt es nach dem jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von Ende April, 13 Millionen Menschen (15.5 Prozent der Bevölkerung), die mit einem mittleren Einkommen von 1.099 Euro, preisbereinigt 921 Euro, zurechtkommen müssen.
Zu ihnen gehören Rentner, vor allem alte Frauen, Alleinstehende, Alleinerziehende und Studenten. Nur 15 Prozent dieser Menschen sind arbeitslos und oft aus gut nachvollziehbaren Gründen allein auf Sozialtransfers angewiesen.
Nur als Ergänzung ein Hinweis auf die Höhe der durchschnittlichen Renten: Die Netto-Renten der Männer lagen 2024 bei 1.500 Euro, die der Frauen bei 980 Euro. Mehr als die Hälfte aller Rentner muss also mit noch deutlich niedrigeren Renten zurechtkommen. Von gesellschaftlicher Teilhabe, einem würdevollen Leben im Alter, kann bei solchen Renten keine Rede sein.
Diese wachsende Armut beunruhigt, verstellt aber nicht den Blick darauf, dass der Sozialstaat insgesamt seine Funktion als Sicherheitsanker der Gesellschaft erfüllt. Richtig ist aber auch, dass der Sozialstaat wegen der demographischen Tatsachen (mehr Alte als Junge), wegen der schrumpfenden Workforce als seiner zentralen Finanzierungsquelle, wegen wissenschaftlichen Fortschritten und steigenden Kosten bei verbesserter Qualität der Versorgung und wegen überkommener Strukturen eine Effizienzreorganisation braucht. Im Koalitionsvertrag von CDU und SPD findet sich dazu nichts.
Dabei wäre eine solche Effizienz-Reorganisation des Sozialstaates kein Hexenwerk. Die Sozialleistungen könnten besser organisiert und langfristig sicher finanziert werden, auch wenn dafür zu Beginn der Reorganisation hohe Investitionen erforderlich wären und die Abgabenquote auf 50 Prozent steigen würde.
Selbstverantwortungskultur statt Reform
Aber CDU und SPD reden lieber den Sozialstaat schlecht. Sie nehmen die zunehmende soziale Ungleichheit und Verunsicherung der ganzen Gesellschaft hin, ohne zu bedenken, dass sie damit auch den Modernisierungswillen in Wirtschaft und Gesellschaft ausbremsen.
Hier lohnt ein Blick nach Norden, etwa nach Finnland. Konservative, Sozialdemokraten und Grüne befördern gemeinsam das Vertrauen ihrer Bürger in Staat und Regierung, die Einkommen sind im europäischen Vergleich hoch, die Inflation wird immer ausgeglichen, das Bildungssystem hält Chancen für jeden bereit, die soziale Unterstützung ist umfassend, effektiv und großzügig staatlich organisiert.
Die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten ist immer weiter gestiegen. Die Steuerquote ist hoch, und dennoch bestimmt Freiheit als selbstverständliches Lebensgefühl den Alltag in Finnland.
In der Bundesrepublik setzen CDU und SPD dagegen lieber auf Sozialkürzungen, nehmen die Verschärfung der sozialen Unterschiede hin und propagieren eine spaltende Selbstverantwortungskultur.
Sie ignorieren dabei, dass es für die frustrierten Bürger eine nun sogar vom Verfassungsschutz als rechtsradikal eingestufte Alternative gibt. Keine schönen Aussichten.
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