Unabhängiger Polizeibeauftragter über Berlin: „Ich möchte etwas bewegen“
Seit dem 1. August hat Berlin einen unabhängigen Polizeibeauftragten. Dass große Erwartungen auf ihm ruhen, begrüße er, sagt Alexander Oerke.
taz: Herr Oerke, es hat lange gedauert, bis der Posten des unabhängigen Bürger- und Polizeibeauftragten von Berlin besetzt worden ist. Am 1. August 2022 haben Sie angefangen. Große Erwartungen ruhen auf Ihnen, sind Sie sich dessen bewusst?
Alexander Oerke: Das ist mir natürlich bewusst. Ich begrüße das.
Die Parteien des rot-grün-roten Regierungsbündnisses hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen. Sie gelten als Kandidat der SPD.
Das ist insofern richtig, als ich mich zunächst bei der SPD initiativ beworben hatte. Aber ich habe kein SPD-Parteibuch.
1961 geboren in Hannover, hat in Göttingen und Freiburg/Breisgau Jura studiert. Ab 1992 war er Richter, seit August ist er Berlins erster Polizeibeauftragter.
Im Laufe der Zeit hat er auch sieben Jahre in Justizministerien gearbeitet: fünf Jahre in Berlin und zwei in Brandenburg. Zuletzt war er stellvertretender Vorsitzender des 1. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (OVG). Der 1. Senat ist etwa zuständig für das komplette Ordnungs- und Polizeirecht und damit auch das Versammlungsrecht.
Oerke ist verheiratet und hat drei Kinder. Sein Hobby ist Windsurfen.
Die Stelle war doch gar nicht ausgeschrieben.
Das war schon 2020. Eine Expertenanhörung im Abgeordnetenhaus hatte mein Interesse geweckt, mich zu bewerben.
Die Linkspartei hatte sich einen Kandidaten aus dem Bürgerrechtslager gewünscht. Ihre Bewerbung lag dann anderthalb Jahre sozusagen auf Halde.
Ich kenne die Personen nicht, die in die engere Wahl gezogen worden sind. Ich war aber sehr erfreut, als ich im Mai 2022 gefragt wurde, ob ich es denn noch machen möchte.
Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Als Richter habe ich die Erfahrung gemacht: Je früher man sich im Wege der Schlichtung, im Dialog mit Konfliktfällen befasst, umso eher besteht die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung.
Sie waren Richter im 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg und dort unter anderem für Polizei- und Versammlungsrecht zuständig.
Ich war auch viele Jahre in der Richter-Personalratsvertretung. Es gehört ein bisschen zu meiner DNA, mich für andere Leute einzusetzen. Als Richter ist man allerdings in ein enges Korsett eingebunden, man beschäftigt sich nur mit Fällen, die einem im Wege der gesetzlichen Zuständigkeit auf den Tisch kommen. In dem neuen Amt habe ich die Möglichkeit, breiter tätig zu werden.
Die Vorgeschichte Die Beschwerdestelle für Polizei und Bürgerangelegenheiten ist ein zentrales Projekt der rot-grün-roten Innenpolitik. Schon in der vergangenen Legislaturperiode sollte das Amt eingerichtet werden. Erst Ende 2020 passierte das Gesetz dazu das Parlament. Tauziehen gab es auch bei der Frage, welcher Kandidat für die Wahl nominiert wird.
Der Status Der Bürger- und Polizeibeauftragte ist gänzlich unabhängig und wird vom Abgeordnetenhaus gewählt. Einmal im Jahr muss er dem Parlament einen Tätigkeitsbericht vorlegen.
Die Aufgaben Das neue Amt ist für alle Beschwerden zuständig die sich gegen die Polizei oder andere unter der Aufsicht des Landes stehende Behörden richten. Ziel ist laut Gesetz „auf eine einvernehmliche Lösung der Angelegenheit hinzuwirken“.
Die Stelle Alexander Oerke wurde am 9. Juni von allen im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien mit Ausnahme der CDU ge wählt. Am 1. August trat er sein Amt an. Die neue Beschwerdestelle muss er nun selbst aufbauen.
Im Bundesvergleich Unabhängige Polizei-Beschwerdestellen gibt es bislang in 7 von 16 Bundesländern: Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen (im Aufbau), Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. In NRW ist eine geplant. Wegen der Ermittlungsbefugnisse und der guten personellen Ausstattung gilt das Berliner Modell als besonders fortschrittlich. (plu)
Was meinen Sie damit?
Das Amt des Bürger- und Polizeibeauftragten ist eine Schlichtungsstelle, wenn es im Zusammenleben zwischen Bürgern und Bürgerinnen und staatlichen Einrichtungen zu Problemen kommt. Die Aufgaben sind in einem eigenen Gesetz geregelt. Das Ziel ist, in einem Dialog mit den Beteiligten auf eine einvernehmliche Lösung der Angelegenheit hinzuwirken. Ich werde es vor allem mit Einzelfällen zu tun haben. Wenn sich im Laufe meiner Tätigkeit aber zeigt, das bestimmte Einzelfälle immer wiederkehren und da strukturell etwas im Argen liegt, werde ich dem natürlich auch nachgehen.
Was könnte das sein?
Ich nehme mal ein Beispiel, das ich der Presse entnommen habe: Bei Fahrscheinkontrollen wurden nichtweiße Personen besonders oft kontrolliert bzw. unangemessen behandelt.
Im Fall von Polizeikontrollen wäre das Racial Profling.
Ja, das sieht danach aus; hier war es im BVG-Bereich. Wenn so etwas öfter vorkommt, habe ich die Möglichkeit, auch ohne eine Beschwerde aus eigenem Antrieb nachzuforschen.
Und dann?
Wenn ich zu dem Ergebnis komme, das geschieht gehäuft, muss man sehen, wie das abgestellt werden kann. Das ist kein Verhalten, das rechtlich in Ordnung ist.
Haben Sie eine Ahnung, was da an Arbeit auf Sie zukommt?
Überhaupt nicht. Um eine Vorstellung zu haben, wie oft sich Bürgerinnen und Bürger mit Beschwerden an die Polizei wenden, habe ich mir kürzlich den Jahresbericht der internen Beschwerdestelle der Polizei angesehen. Danach gab es rund 1.900 zu bearbeitende Beschwerden im Jahr 2020.
Ist das viel oder wenig?
Angesichts von mehreren Millionen polizeilichen Maßnahmen, die jedes Jahr in dieser Stadt durchgeführt werden und bei rund 25.000 Beschäftigten der Berliner Polizei ist das keine hohe Zahl. Man muss das in Relation sehen. Auch die Anzahl der begründeten Beschwerden ist im Vergleich relativ gering. Bei circa einem Drittel ließ sich der Sachverhalt nicht aufklären. Ähnlich ist es bei den Petitionen. Als Bürgerbeauftragter arbeite ich ja mit dem Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses eng zusammen. In dem Bereich gibt es verschwindend wenige Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern an den Petitionsausschuss, die mit der Polizei zu tun haben. Das kann man an einer Hand im Jahr abzählen.
Was folgern Sie daraus?
Das fällt aus meiner Sicht ziemlich stark auseinander. Ich kann es mir nur so erklären, dass sich Leute, die sich über die Polizei beschweren, das direkt bei der Polizei machen. Wie sich das dann bei mir darstellt, kann ich derzeit nicht absehen.
Teile der Gesellschaft haben ein großes Misstrauen gegen die Polizei und würden sich deshalb nicht mit Beschwerden an die Polizei wenden. Wer gewalttätige Beamte anzeigt, muss mit einer Gegenanzeige wegen Widerstands und Ähnlichem rechnen, das ist eine auch von der taz oft beschriebene Tatsache. Wie erleben Sie das?
Aus eigener Wahrnehmung kann ich das nicht nachvollziehen. Ich kann nur sagen, als Richter habe ich relativ wenig erfolgreiche Verfahren gesehen, die sich gegen die Polizei richteten.
Genau das ist Teil des Problems. Verfahren wegen Körperverletzung im Amt enden in der Regel mit Freispruch oder Einstellung. Ein nicht unerheblicher Grund dafür scheint der Korpsgeist zu sein: Ein Polizist sagt ungern gegen einen Kollegen aus. Ein Amtsrichter beschrieb das bei einer Urteilsverkündung mal so: Er sei bei den Polizeizeugen auf eine Mauer des Schweigens gestoßen.
Ich habe dazu auch schon entsprechende Untersuchungen gelesen. Aber ich persönlich werde mich im Einzelfall immer nach meinen eigenen Feststellungen richten und nicht danach, was – vielleicht auch von bestimmten politischen Kreisen – von mir erwartet wird. Und ein Schweigen oder eine Aussage, von wem auch immer, die mich misstrauisch macht, gibt mir Anlass, das zu hinterfragen und meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Auch als Richter habe ich das immer so gehalten.
Bestimmte politische Kreise, wen meinen Sie damit?
Mit Ausnahme der CDU haben mich alle Fraktionen des Abgeordnetenhauses gewählt. Das hat mich sehr gefreut,und es zeigt, dass mir ein gewisses Vertrauen für eine neutrale Amtsführung entgegengebracht wird…
… auch von der AfD?
Offensichtlich. Die einen erwarten sicher, dass ich mich schützend vor die Polizei stelle und sage, die macht alles richtig. So wird es nicht sein. Und die anderen erwarten, dass ich Missstände, die aus dieser politischen Sicht schon immer bestanden haben, sofort bestätige. So wird es auch nicht sein. Je nachdem, wie im Einzelfall meine Empfehlung aussehen wird, wird der eine oder die andere später vielleicht mal bereuen, mir seine Stimme gegeben zu haben, aber so ist es halt. Man kann es nicht allen recht machen.
Was für ein Bild von der Polizei haben Sie denn als Privatmensch?
Als junger Mensch bin ich ein paar Mal zu schnell gefahren mit dem Motorrad, aber das ist schon lange her. Ich persönlich hatte mit der Polizei keine Probleme. Das heißt aber gar nichts. Ich bilde mein Urteil aufgrund meiner jetzigen Tätigkeit, sonst wäre eine neutrale Aufgabenerfüllung nicht möglich.
Sind Sie mal auf Demos gewesen?
Bin ich auch gewesen, das letzte Mal in Potsdam …
… Sie wohnen im Umland von Berlin …
…da ging es um die Schulgebühren. Privatschulen in Brandenburg werden teilweise vom Land finanziert. Das war ein Fall, wo ich dachte, da müsste ich mal mitgehen.
Radikalere Demonstrationen oder Straßenschlachten haben Sie nie erlebt?
Es gab durchaus Demonstrationen. Ich sage es mal ganz vorsichtig, Anti-Nazi-Demonstrationen sind mir aus meiner Jugend nicht ganz unbekannt. Als ich Richter wurde, habe ich mich da zurückgehalten.
Auch die Polizei war in den letzten Jahren häufig in den Schlagzeilen wegen rechtsextremistischer Chats und Einstellungen. Und auch der Mord an dem Amerikaner George Floyd in den USA hat dazu geführt, dass in Deutschland rassistische Polizeipraktiken verstärkt in den Fokus gerückt sind. Auch deshalb ruhen große Erwartungen auf dem Polizeibeauftragten.
Das ist gut so. Diskriminierung und Rassismus hat es immer gegeben. Gott sei Dank ist dieses Thema in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund gerückt. Ich denke, dass auch auf Behördenseite einige Schritte unternommen worden sind, das einzudämmen. Aber das ist noch nicht das Ende der Entwicklung. Auch das ist ein Grund für die Einrichtung dieses Amts.
Der bekannte Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes hat gesagt, ein Polizeibeauftragter sei so etwas wie eine Eier legende Wollmilchsau.
Da kann ich ihm nur recht geben. Sehen Sie: Meine Aufgabe beschränkt sich ja nicht nur auf die reine Sacharbeit, sondern zunächst gilt es, die Beschwerdestelle überhaupt arbeitsfähig zu machen. Da geht es um Räume, da geht es um Personal und, und, und. Der Haushaltsgesetzgeber hat mir dankenswerterweise 16 Stellen zugebilligt, die es nach und nach zu besetzen gilt.
Wollen Sie als Chef der Behörde alle Fälle selbst sichten oder von Ihren Leuten aufbereiten lassen?
Es kann sein, dass eine Vorbesichtigung stattfindet, aber alle Fälle gehen über meinen Tisch. Ich sehe alles, was eingeht, und habe im Fokus, wie die Sache weiterbearbeitet wird. Im Regelfall müssen bei einer Beschwerde beide Seiten um Stellungnahme gebeten werden. Erst dann hat man ein halbwegs vollständiges Bild.
Sie haben auch eigene Ermittlungsbefugnisse, wie weit gehen die?
Ich kann mir Akten ziehen, auch bei der Polizei. Ich habe auch Betretungsrechte in den behördlichen Einrichtungen. Ich muss das lediglich mit den übergeordneten Senatsverwaltungen abstimmen, damit die Bescheid wissen.
Gilt das auch für die Staatsanwaltschaft?
Nein, auf staatsanwaltschaftliche Akten und während eines strafrechtlichen Gerichtsverfahrens habe ich kein Zugriffs- und Prüfungsrecht. Allerdings werde ich ein Augenmerk darauf haben, ob solche Verfahren unangemessen lange dauern.
Können Sie auch aus eigenem Antrieb tätig werden?
Da bin ich sehr dankbar, dass das Gesetz mir diese Möglichkeit gibt. Ich bin ein aufmerksamer Zeitungsleser. Alles, was mir zu Augen oder Ohren kommt und wo ich meine, da läuft was schief, und es fällt in meine Zuständigkeit – darum werde ich mich kümmern, wenn dies zeitlich möglich ist.
Wird man Sie künftig auch auf Diskussionsveranstaltungen von NGOs antreffen, wenn Sie eingeladen werden?
Davon gehe ich aus. Der Presse kann man viel entnehmen, aber nicht alles. Betroffenenverbände können einem ein Gefühl vermitteln, wo man noch mal genauer hingucken muss, wo Sachen im Argen liegen. Zu Wort melden werde ich mich bei Veranstaltungen aber nur, wenn ich etwas aus eigenen Erfahrungen beisteuern kann.
Was treibt Sie an?
Ich möchte etwas bewegen. Eine Akte auf dem Schreibtisch von links nach rechts zu schieben, das ist nie mein Lebenstraum gewesen. Am Ende meiner Amtszeit möchte ich gern sagen können: Ich habe hier eine Behörde aufgebaut, die wichtig und unverzichtbar ist und die allseits in ihrer Funktion akzeptiert wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance