Umstrittener „Ökotoken“ in Bayern: Guter Bürger, schlechter Bürger
Ein digitales Belohnungssystem soll in Bayern zur Umweltfreundlichkeit animieren. Kritiker sprechen von Überwachung – ähnlich wie in China.
Im Herbst will Bayern einen „Ökotoken“ einführen: Bürger, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, sollen für ihr umweltfreundliches Verhalten belohnt werden. Wer viel Bus und Bahn fährt, darf kostenlos eine Ausstellung oder ein Konzert besuchen. Die bayerische Staatsregierung hat den Token bereits 2019 angekündigt, doch jetzt kocht das Thema richtig hoch.
Die AfD schreit Zeter und Mordio und vergleicht das Punktesystem mit dem chinesischen Sozialkreditsystem, bei dem die Regierung das Sozialverhalten per Algorithmus normiert: Wer Blut spendet, erhält Pluspunkte, wer bei Rot über die Ampel läuft, bekommt Punktabzüge und darf unter Umständen nicht mehr mit dem Zug fahren.
Nur weil Kritik von der falschen Seite kommt, macht sie das noch nicht ungültig. Doch auch wenn noch nicht viel Konkretes über das Projekt bekannt ist, kann man feststellen: Der geplante Ökotoken in Bayern hat mit dem chinesischen Credit Score so viel gemein wie Weißwürste mit Frühlingsrollen. Daher ist auch Empörung über eine angebliche „Klimadiktatur“ maßlos übertrieben. Das Abendland geht nicht unter, nur weil der Staat ein digitales Bonusheft einführt (Krankenkassen bieten solche Bonusprogramme schon seit einigen Jahren an) – zumal die Teilnahme freiwillig ist.
Es gibt bereits einige solcher Anreizsysteme. So hat die Stadt Wien mit einer App experimentiert, die umweltbewusstes Verhalten mit freiem Eintritt zu Kulturveranstaltungen honoriert. Durch Zugriff auf Bewegungs- und Beschleunigungssensoren des Smartphones erkennt die App automatisch, ob man zu Fuß, mit dem Rad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist – und misst per Motion Tracking die Wegstrecke. In Abhängigkeit von der eingesparten CO2-Menge wird dem Nutzer ein Token gutgeschrieben, der dann gegen Kulturgutscheine eingelöst werden kann.
Punkte fürs Mülltrennen
Auch die italienische Stadt Bologna will demnächst ein digitales Belohnungssystem namens Smart Citizen Wallet für umweltbewusstes Verhalten einführen: Bürger, die den Müll ordentlich trennen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen, sollen über eine App Treue- beziehungsweise Tugendpunkte erhalten – ähnlich wie in einem Supermarkt.
Auch hier wurden Parallelen zum chinesischen System des sozialen Ansehens gezogen. Und auch dieser Vergleich hinkt. Denn nach allem, was man weiß, werden in Bologna keine Videokameras installiert, die die Bürger bei der Mülltrennung vor ihrer Wohnsiedlung überwachen, so wie das etwa in Schanghai der Fall ist. Wer dort illegal Bauabfälle entsorgt und dabei von einer Überwachungskamera gefilmt wird, bekommt sofort eine Strafe.
Nun könnte man spitzfindig argumentieren, dass es – zumindest in Deutschland – gar keine staatliche Überwachung braucht, weil die Sozialkontrolle durch Nachbarn und Vermieter so effektiv ist, dass die Ravioli-Verpackung nicht im Bio-, sondern im Plastikmüll landet. Die hierzulande leider noch immer weit verbreitete Blockwartmentalität wird zum Teil durch staatlich finanzierte Denunziationsportale befeuert.
So hat die Stadt Essen 2020 ein Internetformular freigeschaltet, wo Bürger Coronaverstöße anderer Leute melden und Beweisfotos hochladen konnten. Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sah darin „chinesische Verhältnisse“: „Die Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger jetzt im amtlichen Auftrag zu Denunzianten gemacht werden und Fotos aus dem öffentlichen Raum hochladen sollen, erinnert an schlimmste Zeiten“, wetterte er in einem Facebook-Post.
Nun wäre es zynisch zu behaupten, dass Coronaverstöße ein Booster für die Digitalisierung der Verwaltung wären, aber das Beispiel zeigt, wie schnell Behörden damit bei der Hand sind, Melderegister einzuführen. Wobei die „chinesischen Verhältnisse“, die Kubicki in deutschen Städten diagnostiziert, kein Schreckgespenst sind, im Gegenteil: Laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2019 von Yougov und dem Sinusinstitut befürwortet jeder sechste Deutsche (17 Prozent) ein „Social-Credit-System“ nach chinesischem Vorbild. 40 Prozent der Deutschen fänden es gut, wenn sie das Verhalten anderer Bürger positiv oder negativ bewerten könnten.
Es ist schon erstaunlich: Ein autoritäres Steuerungssystem ist anschlussfähig an eine nicht kleine Minderheit einer liberalen Demokratie. Und genau das ist der entscheidende Punkt in der Debatte: die autoritäre Versuchung digitaler Technologien.
Kontrollgrenzen des Staats
Offenbar würden es nicht wenige Mitbürgerinnen und Mitbürger gutheißen, wenn der Autofahrer, der achtlos eine Kippe aus dem Fenster schnippt, bestraft wird, während man für die ordnungsgemäße Entsorgung der Grillreste eine Belohnung erhält. Guter Bürger, schlechter Bürger. Die Idee des Rechtsstaats ist es aber nicht, Regelkonformität zu prämieren, sondern Regelverstöße zu sanktionieren – sonst müsste der Staat ja jedem, der bei einer roten Ampel anhält und auf Gewalt verzichtet, einen Blumenstrauß überreichen.
Jedoch: Der Rechtsstaat kann nicht jedes Verhalten kontrollieren, ohne seinen liberalen Kern preiszugeben, sonst wäre er ein Überwachungsstaat. Diese Lückenhaftigkeit der Normkontrolle erodiert insofern das Vertrauen in den Rechtsstaat, als sich bei vielen Bürgern ein Gefühl der Ungerechtigkeit einstellt: Der Raser kommt mal wieder ungeschoren davon, aber man selbst bekommt ein Knöllchen, weil man die Parkuhr zehn Minuten überzogen hat. Und genau in diese Sollbruchstelle treten digitale Kontrolltechnologien, die versprechen, dass jedes „gute“ oder „schlechte“ Verhalten registriert wird.
Man darf nicht vergessen, dass es in Deutschland bereits ein Punktesystem gibt: die Punkte in Flensburg. Dieses Strafregister funktioniert im Grunde genauso wie der Credit Score, nur analog. Wer zu viele Punkte hat, darf nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen. Klar, die Verkehrsüberwachung in Deutschland ist mit China nicht zu vergleichen, doch dieses Punktesystem kann mit digitalen Überwachungstechniken verschaltet werden. So hat der Bundesrat im vergangenen Jahr grünes Licht für eine automatische Kennzeichenerfassung gegeben, die auf Landesebene, etwa in Brandenburg, bereits seit einigen Jahren zum Einsatz kommt.
Einmal angenommen, der Ökotoken wäre verpflichtend, hätte man tatsächlich einen Social Score im Kleinformat. Oft ist es auch kein staatlicher, sondern ein sozialer Zwang, der Menschen zur (Selbst-)Disziplinierung treibt. Doch bei aller legitimen Sorge um Fremdsteuerung und Kontrolle ignoriert die Debatte einen wichtigen sozialen Aspekt: Viele Menschen, die wegen der hohen Mieten in den Städten ins Umland gezogen sind, sind auf das Auto angewiesen – sie können nicht mal eben zur Arbeit oder in den Supermarkt radeln. Und auch für Menschen mit Behinderung ist der ÖPNV meist keine Alternative, weil der Zugang zu Haltestellen häufig nicht barrierefrei ist. Vielerorts fehlt es an Aufzügen und Rolltreppen oder sind die Rampen so steil, dass sie für Rollstuhlfahrer kaum zu bewältigen sind.
In der Stadt leben muss man sich heute leisten können. Wenn der Staat nun Bürger für ihr Mobilitätsverhalten belohnt, subventioniert er nicht nur die Kulturbesuche einer ohnehin schon privilegierten Schicht, sondern grenzt auch noch mobilitätsbeeinträchtigte Menschen aus dem öffentlichen Raum aus – und treibt damit die soziale Exklusion von Gruppen voran, die sich angesichts der steigenden Inflation den Museums- oder Konzertbesuch nicht mehr leisten können. In der Oper trifft sich am Ende wieder nur das juste milieu, das sich für sein umweltbewusstes Verhalten auf die Schulter klopft.
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