Umgang mit der Aiwanger-Affäre: Präzise Anklage, bitte
Weder Aiwanger noch Ministerpräsident Söder fanden richtige Worte in der Flugblatt-Affäre. Doch auch Aiwangers Kritiker machten Fehler.
D ie Aiwanger-Festspiele gehen weiter. Auf den ersten Blick nach Bayern sieht es so aus, als hätte es nie ein Hetzblatt in seiner Schultasche und kein widersprüchliches Geschwurbel des erwachsenen Aiwanger gegeben. Nach seinem Freispruch durch Markus Söder tingelt der Vizeministerpräsident scheinbar frisch gestärkt durch die Bierzelte und wird gefeiert. CDU-Chef Friedrich Merz nennt Söders Umgang mit dem Fall Aiwanger „bravourös“, der Kanzler nimmt ihn „zur Kenntnis“. Ist Deutschland also auf dem rechten Auge blind, so wie Olaf Scholz auf dem jetzt schon ikonischen Augenklappen-Foto nach seinem Joggingunfall?
Ganz und gar nicht. Die öffentliche Aufregung im ganzen Land hält unvermindert an und zeigt, wie ernst der Umgang mit dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte nach wie vor zu Recht genommen wird. Nichts in Deutschland ist wichtiger als eine glasklare Haltung zu den NS-Verbrechen und zum rechtsextremen Hass von heute.
Klar ist auch, dass weder Aiwanger noch Söder die richtigen Worte dazu gefunden haben. Im Vordergrund stehen bei CSU und Freien Wählern offenkundig der pure Machterhalt und das Bedürfnis, die unangenehme Sache abzuhaken. Ob sie damit langfristig durchkommen, ist offen. Es hängt davon ab, ob noch weitere, belegbare Verfehlungen Aiwangers ans Licht kommen – und wie sich die politische Konkurrenz weiter zu dem Fall verhält.
Chance auf Resozialisierung
Leider wurden auch bei der Kritik an Aiwanger Fehler gemacht. Das artikulierte Entsetzen über das Hetzblatt war zwar berechtigt, weil eine derart sadistisch-widerliche NS-Verherrlichung noch nie bei einem späteren Regierungspolitiker der Nachkriegsgeneration entdeckt wurde. Doch in der Empörung haben viele unterschätzt, wie stark der Verweis auf das jugendliche Alter des politisch Angeklagten zur Tatzeit wirkt. Nicht nur bei Rechten. Gerade Linke sollten sich über diese Nachsicht nicht erheben. Die Chance auf Resozialisierung ist ja keine rechte Idee.
Wer trotzdem sofort nach Bekanntwerden der ersten Berichte Aiwangers Rücktritt fordert, läuft Gefahr, dass Aiwangers abgeschmackte Opfermärchen bei vielen noch mehr verfangen. Wer Rechte angreift, muss in der Haltung klar, aber auch in der Anklage präzise sein und angemessene Konsequenzen fordern: also erst einmal Aufklärung. Wer von Anfang an „Entlassung“ ruft, wenn eine Hetzschrift auftaucht, zu der sich der Bruder des Angeklagten bekannt hat, schießt über das Ziel hinaus und muss sich nicht wundern, wenn Aiwanger bei einer Nicht-Entlassung als vermeintlicher Sieger dasteht.
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