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Ulrich Herbert über Holocaust-Forschung„Quellenlage ist besser geworden“

16 Bände zählt die breiteste Sammlung zur Holocaust-Forschung. Historiker Ulrich Herbert über den finalen Band – und warum er den Diskurs zur NS-Zeit skeptisch sieht.

Grundlegend für unser historisches Selbstverständnis: Auschwitz als Sinnbild für den Holocaust Foto: Karsten Thielker
Stefan Reinecke
Interview von Stefan Reinecke

taz: Herr Herbert, die Edition Holocaust-Dokumente sollte nach 8 Jahren beendet sein. Es hat nun 18 Jahre gedauert. ­Warum?

Ulrich Herbert: Die ursprüngliche Idee war es, ein überschaubares Kompendium der wichtigsten Dokumente von etwa sechs Bänden zusammenzustellen. Das hat sich schnell als unzureichend herausgestellt. Eine seriöse Grundlagenforschung, die Täter, Opfer und Zuschauer repräsentiert, musste viel umfangreicher sein. Wir hatten es mit 20 Ländern, 21 Sprachen und Recherchen in mehr als 100 europäischen Archiven zu tun. Zudem sollten die Biografien aller beteiligten Personen recherchiert werden, aller Täter und Zuschauer, vor allem aber aller Opfer. Das hat sich als sehr aufwendig erwiesen.

Warum soll man diese 16 Bände lesen?

Zum einen sind sie eine Grundlegung für weitere Arbeiten und Forschungen. Darüber hinaus aber ermöglichen die Dokumente und Quellen einen direkteren Bezug, eine unmittelbare und multiperspektivische Konfrontation mit den Ge­schehnissen. Wer ein paar Stunden in diesen Quellen liest, vergisst diese Lektüre nicht. Sie schafft die Möglichkeit, sich ein sehr nahes, eigenes Bild zu machen.

Viele Bände skizzieren Entrechtung und Repression, dann Ghettoisierung und Deportation, dann Mord und Vernichtung. Ist dies – Verschärfung und Kumulation – der erzählerische Fluchtpunkt dieser Bände?

Wenn, dann keiner, der bewusst hergestellt wurde. Aber die Quellen zeigen die Vernichtungspolitik überdeutlich als Prozess, nicht als Vollzug eines früh gefassten Plans. Die Nazis wussten 1939 nicht, dass sie 1942 ganz Europa beherrschen und dass dann sieben oder acht Millionen Juden in ihrem Machtbereich leben würden. Sie haben immer nur die nächste Stufe der Repression und des Terrors geplant. Es gab aber Sprünge. Der Plan, alle Juden nach Madagaskar zu deportieren, der unter anderem aus dem Auswärtigen Amt kam, war so ein Sprung. Man dachte fortan nicht mehr in Tausenden oder Hunderttausenden, sondern in Millionen.

Das Werk

Empfang: Am 16. Juni 2021 empfängt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die HistorikerInnen, die fast zwei Jahrzehnte an „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (Verlag Walter de Gruyter, Berlin) gearbeitet haben.

Das Werk: Die 16 Bände sind die umfassendste Sammlung von Quellen und Dokumenten zum Holocaust. Ein Schriftdenkmal, so die HerausgeberInnen. Nun ist der abschließende Band erschienen.

Viel Raum nimmt die Kollaboration der besetzten Länder mit den Nazis ein. Es gibt zwei Länder, in denen die NS-Judenverfolgung scheiterte – Dänemark und Albanien.

… und Bulgarien …

Warum diese Länder?

Aus Tradition, Zufall und wegen der Größenordnungen. Es gab 5.000 dänische Juden, das rettende Schweden war mit dem Boot leicht zu erreichen. Die deutschen Besatzer haben die Deportation dort auch nicht so stark forciert wie anderswo. Es gab im Land wenig Antisemitismus und viel Erbitterung über die deutschen Besatzer. Ähnlich war es in Albanien. Bulgarien hat die Deportation der Juden aus den altbulgarischen Gebieten verweigert. Die Juden in den besetzten Gebieten wurden den Deutschen jedoch ausgeliefert. Eine solche Unterscheidung zwischen „eigenen“ und „fremden“ Juden finden wir auch in anderen Ländern.

Also gibt es kein Muster?

Nicht ein Muster, es gibt mehrere. Antisemitismus ist überall feststellbar. Aber auch eine Gier nach den angeblichen Reichtümern der Juden. In vielen Ländern rückt seit einigen Jahren die Kollaboration mit den Deutschen in den Vordergrund, die lange verschwiegen wurde. Aber seit gut 15 Jahren ist das anders geworden, auch die Quellenlage ist besser geworden. Davon hat die Edition profitiert.

Im Interview: Ulrich Herbert

69, lehrte bis 2019 in Freiburg und ist einer der führenden NS-Historiker. Bekannt wurde er u. a. mit der Studie über den SS-Mann Werner Best. Zuletzt erschien von ihm bei C. H. Beck „Wer waren die Nationalsozialisten?“.

Hat Sie in der Forschungs­arbeit etwas überrascht?

Ja, wie unfassbar viele Zeugnisse aller Art dieser Massenmord hinterlassen hat. Dokumente der Täter und der Zuschauer vor allem, aber eben auch der Opfer. Die Vorstellung, das sei im Wesentlichen ein geheimer Vorgang gewesen, erweist sich so als abwegig. Zum anderen, wie oft man bei solchen Recherchen auf Leute trifft, zu denen man als Deutscher in irgendeiner Beziehung stand oder steht. Ein Beispiel: Günter Hellwing war während der Kriegsjahre Leiter der Gestapo in Marseille und mitverantwortlich für die Deportation der Juden der Stadt in die Vernichtungslager. Nach dem Krieg wurde er Leiter der Kriminalpolizei in Mülheim an der Ruhr, meiner Heimatstadt. Die Kripo lag direkt gegenüber meiner Schule. Er war SPD-Landtagsabgeordneter, 1958 gelangte er sogar in den Bundesvorstand der Partei, bis sich die SPD von ihm trennte. Es gibt sehr viele solcher Geschichten, das ist in Deutschland gar nicht vermeidbar.

Ist die Erforschung der Judenvernichtung im Jahr 2021 – und symbolisch mit dieser Edition – abgeschlossen?

Nein. Die Frage, ob nicht endlich alles erforscht ist, wurde uns auch schon 2003 gestellt, als wir das Konzept für die Edition vorstellten. Die gleiche Frage hatte mir auch ein FAZ-Redakteur gestellt, der meinte, das Thema NS-Zeit sei mit der Wiedervereinigung jetzt doch erledigt. Das war 1990. Und in den 1960er Jahren, bei den Debatten um die Verjährung der Mord­taten der Nazis, ging es vor allem um diese Frage. Die Antwort ist immer: Nein. Diese Edition gibt wie alle historische Forschung ein Zwischenresultat, allerdings auf sehr breiter Grundlage. Und natürlich wird sich das durch neue Quellen und neue Fragen auch verändern.

Gibt es noch weiße Flecken auf der Forschungslandkarte der Judenvernichtung?

Ja. Vor allem in Südosteuropa, in Griechenland, Rumänien, in der Ukraine. In den letzten Jahren wird der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Interessen und Vernichtungspolitik verstärkt diskutiert und erforscht – in Deutschland und in den einst besetzten Ländern. Der Holocaust war auch und vielfach sogar in erster Linie ein systematischer, staatlich organisierter Raubmord.

Ihre Mitherausgeberin Susanne Heim hat gesagt: Diese Bände sind der Versuch, sich von der Metadiskussion über den Holocaust zu entfernen und sich wieder dem Geschehen selbst zuzuwenden. Warum ist das wichtig?

Als Helmut Kohl einmal eine neue Ausstellung in Yad Vashem in Jerusalem besuchte, sagte er dort: Das weiß ich doch alles. Das ist eine verbreitete Haltung. Raul Hilberg hat vermutet, dass sein Buch, das Standardwerk über den Holocaust, zwar oft gekauft, aber fast nie gelesen wurde. Das ist dem Thema inhärent. Es existiert eine verständliche Scheu gegenüber der Empirie des Holocaust. Jeder hat eine Meinung und eine moralische Haltung gegenüber dem Judenmord. Ob er oder sie nun viel darüber weiß – oder nichts. Viel Meinung, wenig Kenntnis: Das ist zunehmend problematisch.

Warum sind Sie so skeptisch gegenüber dem öffentlichen Diskurs über die NS-Zeit?

Wir erleben schon seit Jahrzehnten ein Übermaß an Spekulation, Interpretation, Deutung, oft ohne detaillierte Kenntnisse. Das galt auch für den Historikerstreit der 80er Jahre. Hier hat sich ein Ungleichgewicht entwickelt – ein Übermaß an medialem Schein und wenig Befassung mit der Sache selbst. Es gibt ja mittlerweile mehr Arbeiten über den Holocaust im Film oder im Gedicht als über den Massenmord selbst. Und immer mehr und immer wieder die Zurichtung auf die Frage: Was soll die Jugend daraus lernen? Aber dass man keine kleinen Kinder umbringt, weiß man auch ohne historische Kenntnisse über den Judenmord. Die Auseinandersetzung mit diesen Massenmorden ist kein didaktischer Vorgang.

Sondern?

Er ist ein individueller Vorgang. Es zu wissen und mehr darüber zu wissen ist der Zweck dieser Auseinandersetzung.

Aber gibt es die Kämpfe um die Interpretation und Deutung der NS-Zeit noch? Der Historikerstreit, die Debatten um die Wehrmachtausstellung, Holocaust-Mahnmal, Zwangsarbeiterentschädigung – all das ist 20 Jahre und länger her. Das Thema scheint als Selbstverständigungsdiskurs der Republik vorbei zu sein.

Die großen Auseinandersetzungen um die NS-Verbrechen, um die Wehrmacht, die Rolle der Intellektuellen, die Größenordnungen der Verbrechen sind weitgehend ausgestanden. In den letzten Jahren hat sich ein gewisser Konsens herausgebildet. NS-Herrschaft und Holocaust sind grundlegend für unser historisches und politisches Selbstverständnis. Dieser Konsens wird von den weitaus meisten Bürgern des Landes geteilt. Das war vor 30 Jahren noch ganz anders. Die scharfen Kontroversen haben auch nachgelassen, weil die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration vorbei ist, die diesen Diskurs bis in die 80er Jahre hinein mit geprägt hat. Ein SS-Offizier, der am Ende des Krieges 25 Jahre alt war, ist erst 1985 pensioniert worden.

Antisemitismus ist als öffentliches Thema aber keineswegs verschwunden. Im Gegenteil. Es reicht von der Debatte um das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus über den Krieg in Nahost bis zu Hans-Georg Maaßens Face­book-Likes. Die Debatte löst sich aber von dem Vernichtungsantisemitismus und von dem, was in diesen 16 Bänden beschrieben wird …

Das stimmt. Aber der Begriff wird zurzeit überstrapaziert. Wenn alles Antisemitismus ist, ist der Begriff nichts mehr wert. In diesen Wochen, in Zeiten des Krieges, wird natürlich besonders exzessiv gelogen. Aber schon in den 70er Jahren hatten französische Bauern mit der Parole „Brüssel ist das Auschwitz der Bauern“ demonstriert. Gaddafi und Saddam Hussein wurden propagandistisch als neue Hitlers tituliert. Der Nationalsozialismus ist global zur Norm des Negativen geworden. Daher sind diese Metaphorisierungen offenbar unvermeidbar.

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